"Dass Essstörungen in unserer Gesellschaft unter Jugendlichen in einem endemischen Ausmaß auftreten, ist bekannt. Weniger bekannt, ist, dass Ess- und Gedeihstörungen schon vom Säuglingsalter an auftreten und verschiedene Hintergründe und Bedeutungen haben können. Neben dieser Entwicklungsperspektive enthält der Band auch ein breites Spektrum an Behandlungen und Konzepten. Die Autorinnen und Autoren verbindet bei unterschiedlicher theoretischer Ausrichtung die Suche nach der nie gekannten oder verlorenen Bedeutung pathologischen Essverhaltens. Gemeinsame Klammer ist die Erkenntnis, dass die Symptomatik stets mit Störungen im Austausch zwischen dem Selbst und dem Anderen zu tun hat. Dies führt zu einem fehlenden inneren Übergangsraum und zu Brüchen in der Symbolisierung und Triangulierung. Der Schwerpunkt des Bandes liegt auf den psychoanalytischen Behandlungen. Sie unterscheiden sich in Setting, konzeptuellem Hintergrund sowie technischem Vorgehen und betreffen Patienten vom ersten Lebensjahr bis in die späte Adoleszenz. Verbindend ist auch hier die Suche nach den der Essstörung zugrunde liegenden Konflikten und Defiziten in der psychischen Entwicklung von hinreichend gesunder Beziehungsfähigkeit und hinreichend gesundem Narzissmus. Veränderung und Heilung wird bei allen Behandelten durch das Erleben und Bearbeiten von alten und neuen Erfahrungen in der therapeutischen Beziehung ermöglicht, wobei in der Arbeit mit kleinen Kindern die Eltern mit einbezogen werden. Psychoanalytische Überlegungen zur Literatur von Goethe, Kafka und Ovid runden den Band ab. Einsicht in und Veränderung von pathologischem Essverhalten gibt es nicht auf die Schnelle, schon gar nicht bei schweren Psychopathologien. Der Band beschäftigt sich mit den komplexen Ursachen und Verbindungen dieser Störungen, in ihm wird der gemeinsame Prozess von Patient und Therapeut mit seinen Rückschlägen und Fortschritten geschildert, der psychisches Wachstum und Heilung hervorbringt. Jongbloed-Schurig ist mit dieser Zusammenstellung von Beiträgen kompetenter Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalytiker ein wichtiges Werk gelungen.
AUS DEM INHALT
Ulrike Jongbloed-Schurig
Einleitung
"Ich esse meine Suppe nicht!" - Ich esse deine Suppe nicht! 9
Erster Teil
Die theoretischen Konzepte
Entwicklungsimmanente Essstörungen
Anna Freud
Entwicklungslinien zur körperlichen Selbständigkeit 18
Anna Freud
Das psychoanalytische Studium der frühkindlichen Eßstörungen 22
Schwere Psychopathologien mit gestörtem Essverhalten
Thomas Ettl
Essstörungen
Der Kampf zwischen Ichideal und Überich 38
Philippe Jeammet
Narzißtische und objektbezogene Fehlregulierungen in der Bulimie 90
Ulrike Jongbloed-Schurig
Pathologisches Essverhalten als Störung von Symbolisierungsfunktion und triangulärem Raum
Bausteine zum Verstehen und Behandeln 123
Marilyn Lawrence
Körper, Mutter, Psyche
Anorexie, Weiblichkeit und das eindringende Objekt 168
Zweiter Teil
Die Fallgeschichten
Säugling und Kleinkind
Ellen Lang-Langer
"Niemand darf meine vernarbte Brust berühren, sonst muss ich ihn totschlagen"
Die fokale Behandlung einer Mutter und ihres vier Monate alten Babys 194
Douwe Jongbloed
Essstörung, psychische Realität und Übergangsraum
Aus der Behandlung eines 3 1/2-jährigen Jungen 218
Adoleszente
Rose Ahlheim
"Ich habe es wohl gewusst, aber nicht verstanden"
Agieren und Sinnverstehen in der Psychotherapie einer Jugendlichen mit Essstörung 228
Dana Birksted-Breen
Die Arbeit mit einer magersüchtigen Patientin 263
Helmut Hinz
Aus der psychoanalytischen Behandlung einer bulimischen und anorektischen Patientin 285
Ulrike Jongbloed-Schurig
Katharina - Nachdenken aus der Sicht der Erstgespräche 325
Ulrike Jongbloed-Schurig
Imma - eine Fallgeschichte 335
Iris Nikulka
"Nur wenn ich ein Strich bin, kann ich sein"
Zur Bedeutung der Entkörperung bei Magersüchtigen 365
Dritter Teil
Psychoanalytische Überlegungen zu Texten von Ovid, Goethe und Kafka
Eduard Bolch
Ovids Metamorphose von Echo und Narzissus und das Paradox in der negativen Übertragung 390
Ulrike Jongbloed-Schurig
Goethes Wahlverwandtschaften 400
Ulrike Jongbloed-Schurig
Gedanken zu Kafkas Hungerkünstler 410
Autorinnen und Autoren 414
Nachweise 416