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Einwanderung - Bedrohung oder Zukunft?

Mythen und Fakten zur Integration
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Verfasser*innenangabe: Andreas Heinz ; Ulrike Kluge (Hrsg.)
Jahr: 2012
Verlag: Frankfurt am Main, Campus
Mediengruppe: Buch
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Inhalt

Einwanderung als Bedrohung? Thilo Sarrazin hat mit seinen Thesen zur erblichen Intelligenz ethnischer Gruppen alte Weltbilder in die gesellschaftliche Diskussion zurückgeholt, so auch die Angst vor dem Fremden. Die Debatte darüber nehmen die Autorinnen und Autoren zum Anlass, neben der Frage der Genetik auch die Mythen zu Kriminalität, Integrationsbereitschaft, Schul- und Wirtschaftsleistung von Migrantinnen und Migranten kritisch zu beleuchten. Sie zeigen, dass das eigentliche Integrationsproblem nicht die Migranten selbst sind, sondern der eindimensionale Standpunkt der Gesellschaft. --- Deutschland ist ein Einwanderungsland. Diese schlichte Aussage war vor ca. 10 Jahren, als die Volkswagen Stiftung die Vorbereitungen für die erste Förderwelle von Projekten zu Migration und Integration vorbereitete, durchaus noch umstritten. Heute wissen wir, dass Deutschland jährlich ebenso viele oder sogar mehr Menschen durch Auswanderung verliert als es durch Einwanderung hinzugewinnt.
 
Aber was ist aus diesen schlichten Tatsachen zu folgern? Das Problem tabuisierter Themen wie derjenigen, ob Einwanderung in Deutschland zur Normalität gehört oder nicht, ist, dass das Verdrängte als Unheimliches wiederkehrt - vertraut und doch in fremder, bedrohlicher Gestalt. Heimlich vertraut sind die Debatten um das deutsche Wesen, um die Frage, was es eigentlich heißt, ¿ein Deutscher¿ bzw. ¿eine deutsche Staatsbürgerin¿ zu sein oder zu den ¿Bewohnern der Bundesrepublik Deutschland¿ zu gehören. Während es in den Vereinigten Staaten von Amerika normal ist, dass ein dort geborenes Kind die nationale Staatsbürgerschaft erhält, ist dies in Deutschland keineswegs der Fall. Wer auf deutsche Vorfahren verweisen kann, hat es leichter, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben, auch wenn die Familien Jahrhunderte lang in anderen Teilen der Welt lebten, als ein Kind ohne entsprechende Vorfahren, das im Territorium der Bundesrepublik Deutschland geboren wurde. Was hier debattiert und verhandelt wird ist die Identität der verspäteten Nation Deutschland?? und ihrer Bewohner. Joachim Fischer schreibt unter Rückgriff auf Plessner: "Deutschland sei die geschichtlich späte und deshalb ¿entsicherte¿ Nation des um seine Welt- und Wertstellung ringenden Europas." Plessner erklärt, dass Deutschland zum Zeitpunkt seiner Reichsgründung im Vergleich zu anderen europäischen Staatsvölkern vergleichsweise traditionslos gewesen sei.
 
Auf die Phase der Verleugnung, in der trotz des bekannten, drastischen Alterungsprozesses der Bevölkerung niemand so recht wahrhaben wollte, dass unsere Gesellschaft einem so dramatischen demografischen Wandel unterliegt, dass sie ohne Migration nicht zu "retten" ist, folgte die Phase des erwachenden Realitätsprinzips, aber auch der politischen Korrektheit, so dass vorsichtig über Migration und Integration debattiert werden konnte. In den letzten Jahren hat sich die Debatte nochmals gewandelt; einer schrittweisen Anerkennung der Realität, dass Menschen in Deutschland zugewandert sind und ihre kulturellen Praxen und Lebensformen in sehr unterschiedlicher Ausprägung beibehalten wollen und werden, folgte eine Phase der inszenierten Dramatisierung der existierenden Situation, die sich in Debatten und Fragen entlud, ob beispielsweise die Türken intellektuell zur Integration unfähig seien, weil sie zu viel Cousinenhochzeiten aufweisen.
 
Ist die Intelligenz also tatsächlich - wie in den aufgeregten Debatten der letzten Jahre erstmals seit Jahrzehnten wieder artikulierbar - erblich, und sollte ein Land wie Deutschland von daher regulieren, ob es Menschen nur aus Gegenden der Welt zuwandern lässt, in denen eine ethnisch oder gar ¿rassisch¿ bedingte, hohe kognitive Funktionsfähigkeit gegeben ist? Muss die Bundesrepublik Deutschland ein neues ¿Mutterkreuz¿ für Akademikerinnen erfinden? Ist es politische Unterdrückung und spricht es gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung, wenn die eben genannten Fragen als Wiedererweckung eines altbekannten eugenischen Diskurses bezeichnet werden? Dabei muss man daran erinnern, dass die Eugenik hier in Deutschland mit den bekannten mörderischen Folgen direkt verknüpft war - in anderen Regionen der westlichen Welt, beispielsweise in Großbritannien, zentrierte sich die eugenische Debatte der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts eher um die Förderung des Nachwuchses von Akademikerinnen und Akademikern, die Fortpflanzung sogenannter ¿wertvoller¿ Familien, als auf die Ausmerze der vermeintlich Minderwertigen. So nannte Mary Stopes, eine britische Botanikerin und Frauenrechtlerin, die von ihr 1921 gegründete Organisation "Society for Constructive Birth Control and Racial Progress". Hintergrund war ihre Befürchtung einer übermäßigen Fortpflanzung "sozial schwächerer" Bevölkerungsgruppen.
 
Im Gewirr der aktuellen Debatten in Deutschland, die sich letztendlich um die Identität eines Landes drehen, dessen Grundgesetz als direkter Gegenentwurf zur Vernichtung der vermeintlich ¿minderwertigen¿ und der rassistischen Zwangssterilisation und Ermordung der angeblich fremdrassigen Menschen zu verstehen ist, drohen die eigentlichen Fakten verloren zu gehen. Fakten, die sich darauf beziehen, ob Migration in Deutschland ein notwendiger Teil des demokratischen Alltags ist (und zwar nicht allein nur aufgrund des demografischen Wandels), und ob die einwandernden Menschen gleiche Rechte haben wie die hier lebende Bevölkerung, ob also Menschenrechte uneingeschränkt oder eingeschränkt umgesetzt werden müssen. Und je nachdem, wie diese Fragen beantwortet werden, stellt sich die Frage nach der Markierung der Differenz, der Abgrenzung von den vermeintlich ¿Anderen¿: Wie ausgeprägt unterscheiden sich Menschen in biologischer Hinsicht tatsächlich voneinander? Lassen sich biologische Differenzen in Bezug auf Hautfarbe oder Haarform, Religion oder geographische Herkunft, kognitive Leistungsfähigkeit oder gar sozialen Erfolg vorhersagen? In welchem Umfang lässt sich Kriminalität durch soziale, kulturelle oder biologische Faktoren erklären oder eben nicht usw.
 
Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels scheint es schon aus reinen Nützlichkeitserwägungen als unabdingbar, dass die rapide alternde deutsche Gesellschaft sich dem Zustrom von Menschen aus anderen Regionen dieser Welt öffnet. Aber hinter diesen Nützlichkeitserwägungen stellt sich die Frage, was es überhaupt heißt, ¿ein Deutscher¿ oder ¿eine Deutsche¿ zu sein, noch einmal anders. Worin bestehen Gemeinsamkeiten, worin die Unterschiede zwischen ¿einem Deutschen¿ und einer Person anderer nationalstaatlicher Herkunft? Ist die Identität unseres Landes durch Kultur geprägt oder durch ¿biologische Ähnlichkeiten¿, auch wenn man dies in den letzten Jahrzehnten vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte kaum sagen durfte und diejenigen, die diese Differenzen jetzt thematisieren, sich mit großem Effekt als ¿Tabubrecher¿ in Szene setzen? Dass sich die Identität unseres Landes auf biologische Gemeinsamkeiten zurückführen lasse, kann klar verneint werden, und es ist ein wesentliches Ziel dieses Bandes, die Narrative einer vermeintlich ethnischen (bzw. in der deutschen Übersetzung des Begriffs noch drastischer benannten ¿völkischen¿) Identität ¿der¿ Deutschen mit widersprechenden biologischen Fakten zu konfrontieren und so zu entmyhtologisieren. Ein erster Blick in die Geschichte ¿der¿ Deutschen vermag das sehr einfach zu illustrieren: So stammen die Deutschen keineswegs von den ¿Germanen¿ ab - vielmehr sind die Menschen im Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland Nachkommen der Slaven, Kelten und Germanen, der römischen Besatzungssoldaten aus den verschiedensten Regionen Europas, der Hugenotten, der vor der Gegenreformation geflohenen Südtiroler, der Dänen im Norden und Niederländer im Westen, der Sorben im Osten, all jener Soldaten, die nach dem Verlust von einem Drittel der deutschen Bevölkerung im 30-jährigen Krieg in Deutschland blieben und Kinder zeugten, der Juden, die seit Jahrtausenden in Deutschland lebten, der Roma, der Kriegsgefangenen und Verschleppten, der schwarzen Kinder französischer Besatzungssoldaten im ersten Weltkrieg, der afro-deutschen Kinder amerikanischer Besatzungssoldaten im zweiten Weltkrieg, der Vielzahl von Migranten, die seit den 60er Jahren auf der Suche nach Arbeit in die Bundesrepublik Deutschland oder in die ehemalige DDR eingewandert sind, der Asylsuchenden wie der japanischen Community, die sich in Düsseldorf und anderen Städten im Rahmen der industriellen Produktion und des Handels angesiedelt haben usw. usw. usw. Bereits hier ist die Heterogenität und Verschiedenheit innerhalb der Gruppe ¿der¿ Deutschen offenkundig.
 
Menschen, die in ein bestimmtes geographisches Gebiet neu hinzukommen, erfahren häufig von der ¿angestammten, alteingesessenen¿ Bevölkerung Widerstand und werden mit Ressentiments belegt. Dies scheint diverse Ursachen zu haben. Nicht zuletzt verbirgt sich dahinter der Wunsch nach Bewahrung eigener Privilegien - ökonomisch schlechter gestellte Bevölkerungsgruppen tragen häufig zu sinkenden Löhnen bei. Damit einher gehen allzu oft rassistische Vorurteile. Im Zuge derartiger Konstellationen werden Fragen aufgeworfen, die aus dem Blickwinkel späterer Zeiten oft nur noch mit Kopfschütteln betrachtet werden: Wäre es im Sinne der Integration angemessen gewesen, den Hugenotten zu untersagen, auf dem Gendarmenmarkt in Berlin einen französischen neben einem deutschen Dom zu errichten? Ist es Teil einer notwendigen Akkulturation, dass die Berliner Mutter eines der Autoren dieses Bandes in den 60er Jahren lernte, Spätzle vom Holzbrett zu schaben, um in ihrer neuen ¿Heimat¿, der Region um Stuttgart, nicht negativ aufzufallen? Ist ihr Kind ein Bastard, wie dies in den 60er Jahren von Nachbarskindern behauptet wurde, weil eine "artfremde" Rassenmischung zwischen einer Berlinerin und einem Schwaben stattgefunden hatte? Hätten sich zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland die allzu gern als ¿Flüchtlingspack¿ titulierten Einwanderer dahin scheren sollen, "wo sie hergekommen sind", weil die Ostflüchtlinge den Bewohnern Westdeutschlands wie Ostdeutschlands Wohnraum und Arbeitsplätze streitig machten?
 
Die Begegnung und der Umgang mit Migranten und Flüchtlingen im heutigen Deutschland ist etwas im Freudschen Sinne Unheimliches, d.h. etwas Vertrautes, dass einer Verdrängung anheim gefallen ist - die Auseinandersetzung mit den Flüchtlingen nach dem zweiten Weltkrieg, die kaum artikulierte Trauer und die rasch übertünchten Schuldgefühle der Vertriebenen wie ihrer neuen Heimatgeber. Wie alles Verdrängte können sie in entstellter Form wiederkehren und zeigen sich beispielsweise in der allzu bemühten Überkompensation der "Akkulturation", in den verzweifelten Versuchen, nicht aufzufallen und um jeden Preis dazu zu gehören, und eben auch in der Abwehr gegen weitere Flüchtlinge. Dürfen also die heutigen Deutschen, die sich diesen Anpassungsprozessen ausgesetzt und all dies zugemutet haben bzw. deren Eltern oder Großeltern das alles zugemutet wurde, nicht endlich auch von anderen Zugewanderten fordern, dass sie ebenfalls Spätzle den Spaghetti oder Kalbsbraten dem Döner Kebab vorziehen? Die sich direkt anschließende Frage ist, ob die sozialen Herausforderungen, die mit Migration und Integration auftreten, besser zu bewältigen sind, wenn Akkulturationsprozesse gefordert, forciert oder erzwungen werden.
Oder bedarf es neuerer Konzepte und Ansätze, wie beispielsweise jener der Hybridität und der Transnationalität, die den Wunsch nach Zugehörigkeit wie Abgrenzung zulassen und das Oszillieren zwischen dem Eigenen und dem Fremden, die gleichzeitige Anerkennung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden ermöglichen? Ist es dann möglich, ein prozessuales an die Stelle eines starren Verständnisses der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Lebenswelten setzen und somit einen angemesseneren Umgang mit Diversität und Einwanderung zu gewährleisten?
 
Der vorliegende Band setzt sich mit verschiedenen Facetten der Situation von Einheimischen und Migranten in der Bundesrepublik Deutschland des 21. Jahrhunderts auseinander.
Die noch immer anhaltenden Debatten um Migration und Integration haben nicht nur die Öffentlichkeit bewegt, sondern auch die Fachdiskurse beeinflusst. Thesen, die für lange Zeit weitgehend ignoriert wurden, wie die Frage der Erblichkeit des IQ oder der biologischen Fundierung von ¿Rassen¿ oder Ethnien wurden von breiten Expertengruppen ebenso heftig diskutiert wie Zahlen und Interpretationen zu Schul- und Wirtschaftleistung, Kriminalität und Integrationsbereitschaft der Migrantinnen und Migranten, insbesondere aus der Türkei und arabischsprachigen Ländern. Der Mehrzahl der Autoren ist gemeinsam, dass sie in Studiengruppen der VW-Stiftung während der letzten 10 Jahre zu Migration und Integration in ihrem jeweiligen Fachgebiet geforscht haben. Ergänzt werden diese Beiträge von der Expertise einzelner weiterer herausragender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. (GS.BMG)

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Verfasser*innenangabe: Andreas Heinz ; Ulrike Kluge (Hrsg.)
Jahr: 2012
Verlag: Frankfurt am Main, Campus
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ISBN: 978-3-593-39759-7
2. ISBN: 3-593-39759-5
Beschreibung: 1., neue Ausg., 450 S.
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