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Heißhunger

historische Bedingungen der Bulimia nervosa
Verfasser*in: Suche nach Verfasser*in Habermas, Tilmann
Verfasser*innenangabe: Tilmann Habermas
Jahr: 1990
Verlag: Frankfurt am Main, Fischer-Taschenbuch-Verl.
Mediengruppe: Buch
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Inhalt

Rezension: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.08.1990, S. 28 Habermas, Tilmann: Heißhunger Zum Kühlschrank gehen, essen, was er bereithält, alles was fett macht: Bis zu 10000 Kalorien kann em Anfall von Heißhunger verschlingen. Aus Einsamkeit, aus Streß und dem Gefühl der Unterdrückung heraus, aus innerer Leere, Angst, Enttäuschung oder Traurigkeit füllen sie sich den Magen mit den manchmal planvoll angelegten Vorräten. Sie sind die Bulimie-Kranken, die ihre Freßorgien dann "wiedergutmachen" wollen und sich deshalb zumeist anschließend vorsätzlich übergeben, oft ausgefeilte Techniken des Erbrechens beherrschen. Sie sind junge Frauen, durchschnittlich achtzehn Jahre alt, die sich ihres Körpers mehr schämen als ihre ebenfalls stets um Bauch- und Oberschenkelformen besorgten Altersgenossinnen. Sie sind im allgemeinen normalgewichtig bis leicht mübergewichtig, wenn sich das Symptombild der Bulimia nervosa bei ihnen einstellt. Für seine Diagnose gelten zwei Eßanfälle wöchentlich als notwendig. Seit Anfang der achtziger Jahre ist die Bulimie in der Öffentlichkeit aufgetaucht, in Umfragen, Zeitschriften und wissenschaftlichen Untersuchungen wurde sie breit verhandelt als "neue Frauenkrankheit". Der Psychologe Tilmann Habermas unternimmt es in seinem Buch "Heißhunger", die Entstehung dieser plötzlich aufgekommenen "Frauenkrankheit" historisch zu rekonstruieren. Daß die neuartige Symptomatik tatsächlich fast ausschließlich bei Frauen auftritt, ist em Hinweis auf ihre enge Verknüpfung mit der weiblichen Geschlechtsrolle und Geschlechtsidentität. Im psychoanalytischen Sinn handelt es sich bei dieser Form der "Domestikation des Hungers"um eine neurotische Störung, einen Konflikt zwischen Trieb und verinnerlichten Normen. Diese Normen sind Gebote, an denen jedenfalls der gegenwärtige Stand kultureller Entwicklung wesentlichen Anteil hat. Die Studie bewährt sich in der Genauigkeit, mit der sie das historisch junge Syndrom der Bulimia nervosa, wie es bei nicht magersüchtigen Frauen auftritt, von der Magersucht, der Anorexia nervosa, abgrenzt. Denn zwar ist die Bulimie über einige Symptome - auf die Heißhungerattacke etwa folgt das provozierte Sichübergeben oder der Mißbrauch von Abführmitteln - mit der Magersucht verbunden. Anders als die Magersüchtigen aber, für die eine verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpergewichts typisch ist, haben die an Bulimie Leidenden eine relativ realistische Einschätzung ihres Gewichts und behalten sie auch. Ihr Kampf ums Abmagern ist nicht der reduzierte Kampf um Autonomie bis hin zu lebensbedrohlicher Untergewichtigkeit, der entsprechend tragische familiäre Dynamiken in Gang bringt. Sondern sie befürchten überwiegend, einfach zuzunehmen, wenn sie ihre nervzehrende Praxis der Gewichtskontrolle, die sie vor ihrer Umwelt zu verbergen suchen, aufgeben würden. Während zudem die Magersüchtigen einer Geschlechtsidentität - und damit der Sexualität - zu entgehen suchen, haben die Bulimikerinnen eine recht normale weibliche Geschlechtsidentität, sie wollen ideale Körpermaße, als Frau attraktiv sein und zugleich ihre Autonomie beweisen. Tilmann Habermas spannt seine Überlegungen zur Bulimie in einen groß angelegten Rahmen ein. Er folgt ihren historischen und medizingeschichtlichen Spuren, wägt die Pathologie des Sichüberessens ab und die soziokulturellen Bedingungen, vor deren Hintergrund umgekehrt die Techniken zur Herstellung des idealen schlanken Frauenkörpers zu sehen sind. Er befragt dafür Quellen aus Geschichte und Psychiatrie, sondiert das weite Feld begrifflicher Unscharfen und Überschneidungen zwischen mystischer Askese und Anorexie, Hysterie und Chlorose (Bleichsucht). Die mittelalterlichen "Fastenwunder" beispielsweise eröffneten jungen Mädchen den Weg in em Gott geweihtes Leben als Nonne, zur Verehrung als "Heilige" gar. Solche Rollenangebote für den Umgang mit pubertärer Nahrungsverweigerung fehlen heute aber in der entscheidenden Phase für die Heranwachsenden, die Flucht aus der Familie und vor der erwachenden Sexualität ins Kloster ist nicht mehr gut möglich. Eine säkularisierte Welt läßt weibliche Nahrungslosigkeit, die sich mit Blick auf das Übernatürliche behaupten konnte, untergehen. Triebunterdrückung und totale Verneinung des Leibes sind nicht mehr für die Gemeinschaft einleuchtend dem Teufel abgerungene Siege. Unsere Kultur kennt diese Deutungsmuster für die Magersucht nicht mehr, die zum schrecklich quälenden Rätsel für die Betroffenen und ihre Familien geworden ist. Statt dessen werden die Frauen in der Neuzeit zunehmend - und stärker als die Männer - über ihren Körper definiert. Der historische Trend stellt das kulturelle Muster einer Metrik des Frauenkörpers bereit, in dem Selbständigkeit und Selbstbestimmung, Intelligenz und sexuelle Attraktivität sich zu vereinigen haben: die Geburt der Bulimie aus dem Leistungsdruck einer gewandelten Frauenrolle. Mit dieser Rolle, die verstärkt auf instrumentelle Fähigkeiten und ständige Selbstkontrolle setzt, müssen junge Frauen zurechtkommen. Typisch für die Bulimikerinnen ist em gespaltener Umgang mit sich selbst: In den Phasen gelungenen Abnehmern und einer gewissen Überaktivität ist ihr Selbstwertgefühl halbwegs intakt. Enttäuschungen können jedoch die "Freß-Anfälle" auslösen, die, zunächst lustvoll, im nachhinein als "ich-fremd" empfunden werden. Das "Kotzen" setzt die Kontrolle über sich selbst dann wieder in Kraft. Mechanische Körperkontrollen sind in unserer Gegenwart von mentalen abgelöst worden, das Korsett vom Diäthalten. Methodisch orientiert sich Tilmann Habermas an Norbert Elias' Konzept der zunehmenden Affektkontrolle, das er nicht uneigenwillig modifiziert und mit Georges Devereux' Modell der "ethnischen Störung" zusammenbindet. Seine These leuchtet em, daß sich die Affektkontrolle von der Triebunterdrückung hin zur Möglichkeit "kontrollierter Befriedigung'" entwickelt hat. Die Körperform als idealen schlanken, nackten Körper in den Griff zu bekommen, erfordert einerseits die Internalisierung erhöhter Selbstzwänge, ermöglicht dafür andererseits aber größeren Bewegungsspielraum der Außenwelt gegenüber: Auch dies ist Teil der Emanzipation der Frauen. Die hohe Geschlechtsspezifik der Bulimie resultiert daraus, daß den Frauen Selbstbeherrschung in höherem Maße abverlangt wird als den Männern. Tilmann Habermas argumentiert mit dem fortbestehenden "Machtgefalle" zwischen den Geschlechtern, auf das er das Moment des Zusammenhangs von Affektkontrolle und Klassenunterschied (bei Elias) verlagert. Der Störfall Bulimie avancierte dann im letzten Jahrzehnt zum "kulturellen Modell des Fehlverhaltens" (Devereux), das die Massenmedien und die Wissenschaft in die öffentliche Rede gebracht haben. Nicht zuletzt so ist die Bulimie zum behandlungswürdigen Leiden geworden. ROSE-MARIA GROPP Tilmann Habermas: "Heißhunger". Historische Bedingungen der Bulimia nervosa. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1990. 293 S., br., 19,80 DM. Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main

Details

Verfasser*in: Suche nach Verfasser*in Habermas, Tilmann
Verfasser*innenangabe: Tilmann Habermas
Jahr: 1990
Verlag: Frankfurt am Main, Fischer-Taschenbuch-Verl.
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Systematik: Suche nach dieser Systematik PI.HKE
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ISBN: 3-596-42330-9
Beschreibung: 293 S.
Schlagwörter: Bulimie, Geschichte, Addephagie, Bulimarexie, Bulimia nervosa, Ess-Brechsucht, Essbrechsucht, Essgier, Esssucht, Fressgier, Fresssucht, Gefräßigkeit, Heißhunger, Hyperorexie, Landesgeschichte, Ortsgeschichte, Regionalgeschichte, Zeitgeschichte
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Fußnote: Literaturverzeichnis
Mediengruppe: Buch