Der Verfasser zeigt, dass es keine 'general theory' des Föderalismus, aber eine Fülle von Detailtheorien gibt. Angesichts der stark divergierenden Befunde erschwert die vergleichende Föderalismusforschung die Bildung einer Theorie. Dies zeigte sich etwa an Theorien der 'Pfadabhängigkeit' oder der 'Politikverflechtung'. Durch Problemdruck, Lernerfolge nationaler Eliten, 'Beipass-Strategien' in der Gesetzgebung oder den Gang auf 'Schleichwegen' der informellen Konsultationen sind Innovationen gegen die Vermutung einer totalen Immobilität des Systems immer wieder erfolgreich durchgesetzt worden. Die normativen Beschwörungen sind gegen die Einseitigkeiten einer rational-choice-geleiteten Föderalismusforschung, die nur die Effizienz auf bestimmten Politikfeldern misst, noch immer nützlich. Die integrative Kraft des Föderalismus wird gerade in Ländern wie Deutschland gelobt, dafür müssen gewisse Abstriche bei der Effizienz in Kauf genommen werden. Föderalismus erscheint in den meisten Darstellungen als eine 'objektive Gegebenheit' im Bereich der Institutionen. Identität ist in erster Linie ein 'subjektiver Faktor', der ständig hergestellt werden muss. Identitätspolitik als bloßer Terminus zeigt, dass die Identität nicht einfach objektiv aus dem Reich der sozialen Realität abrufbar ist. Sie kann zwar nicht willkürlich ohne Verankerung in der sozialen Realität konstruiert werden. Aber die Konstruktion muss durch Identitätspolitik kollektiv verbindlich gemacht werden. Der klassische Vereinigungsföderalismus, der aus einst souveränen Territorien entstand, war rechtlich auf Symmetrie geeicht, um die soziale Asymmetrie der Staaten zu schützen. Er legte Wert auf duale Strukturen und klare Trennungen der Kompetenzen. Selbst in der multisprachlichen Schweiz war der Föderalismus nicht Vehikel der Anerkennungspolitik von Ethnien. Religionsunterschiede und Stadt-Land-Differenzen spielten anfangs eine größere Rolle. Aber auch die Schweiz blieb keine föderalistische Insel der Seligen. Konflikte von Sprachgruppen brachen auf, Migration verschob die Gewichte der ethnischen Zusammensetzung. Der symmetrische Föderalismus konnte diese Probleme nicht lösen. Der Vereinigungsföderalismus nähert sich dem Differenzierungsföderalismus an. Kanada, Belgien, Spanien, Italien, Großbritannien, Indien oder Südafrika können mit den Instrumentarien des symmetrischen Föderalismus ihre Probleme nicht mehr bewältigen. Parallel zu dieser Differenzierung gibt es in ethnisch relativ homogenen Ländern wie Deutschland oder Österreich eine Unitarisierungstendenz. Der Wohlfahrtsstaat wurde nach 1945 in Systemen mit schwachem nationalen Identitätsgefühl eine Art Ersatzidentität. In den fetten Jahren konnte man sich den Luxus immobiler Züge des Föderalismus leisten. Sowie der Sozialstaat im Zeitalter leerer Kassen bedroht ist, haben viele Bürger in ethnisch homogenen Bundesstaaten mehr Interesse an der wirtschaftlichen Wohlfahrt als an den Institutionen, welche die regionale Identität bewahren helfen. Die Bürger akzeptieren dabei mehr Asymmetrie als in jener Ära, als die 'Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse' von den Verfassungspatrioten wie eine Monstranz umhergetragen wurde. Die Akteure sind gespalten: Die armen Territorien rufen nach einem Bonus für die Herstellung von Gleichheit, die reichen wollen keinen Malus mehr ertragen. Der Autor argumentiert, dass der Föderalismus seit den 1980er Jahren eine starke Ausweitung des Konzepts erfährt. Quasi-föderale Systeme wie Belgien und Spanien wurden unter den Begriff subsumiert. Föderalismus wurde nicht mehr nur deskriptiv als Institutionengebilde verstanden. Föderalismus wurde zum Oberbegriff für viele Unterbegriffe wie Föderationen, Konföderationen, assoziierte Staaten, Unionen, Ligen, Kondominium, Regionalisierung und verfassungsmäßig garantierte 'horne rule'. Während die jahrzehntelange Debatte um den 'echten Parlamentarismus' (den britischen) und den 'unechten Parlamentarismus' (den französischen) als unzulässiger Essentialismus zu den Akten gelegt wurde, starb der Abgrenzungsversuch eines 'echten Föderalismus' von einem 'unechten Föderalismus' nicht aus. Die neun Minimalkriterien des 'echten Föderalismus' sind durchaus akzeptabel, um Bundesstaaten von bloßen 'Devolutionsstaaten' zu unterscheiden. 'Bloße Devolutionsstaaten' ist ein vielfach herabsetzender Terminus in der Literatur. Es sieht jedoch so aus, als ob Devolution bald zum Oberbegriff werden könnte. Angesichts der Dezentralisierung von unitarischen Staaten und der Unitarisierung von föderalen Systemen könnte der Föderalismus irgendwann zum Sonderfall der Devolution werden. Symmetrische Vorstellungen des Alt-Föderalismus oder wohlmeinende Konzepte der consociational democracy erscheinen unanwendbar, wenn ein regionaler Konflikt in die Phase der Violenz getreten ist. Zur Konkordanzdemokratie gehören Eliten, die für die vertretenen Gruppen kohärent handeln können. Genau dies fehlt bei den meisten regionalen Eliten der Devolutionssysteme. Die Tendenz zum Multiparteiensystem auch in Territorien ethnischer Minderheiten hat die alte Hegemonialposition erodieren lassen, die einst der PNV im Baskenland hatte und welche die Schwedische Volkspartei in Finnland oder die Südtiroler Volkspartei in Italien bis zu einem gewissen Grad noch immer besitzen. Diese Hegemonie erodiert in dem Maße, in dem ethnische Minderheiten zu violenten Mitteln greifen. Identitätspolitik, Subsidiaritätsprinzip und die Ausdifferenzierung der Föderalismen in der Welt treiben die Asymmetrisierung des Föderalismus in der postmodernen globalisierten Welt voran. 'Nichtzentralisierung', 'Dezentralisierung', 'Devolution', 'Regionalisierung' wurden zu den Grundbegriffen der jüngsten Debatten. Die Konzentration auf die 'territorialen Regime' sprengte die alte Dichotomie von Föderalismus und Einheitsstaat.
Verfasser*innenangabe:
Klaus von Beyme
Jahr:
2007
Verlag:
München, Beck
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Systematik:
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GP.PW
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ISBN:
978-3-406-54765-2
2. ISBN:
3-406-54765-6
Beschreibung:
Orig.-Ausg., 266 S.
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Mediengruppe:
Buch