Texte aus verschiedenen Ländern, Zeiten und Literaturen bilden die Grundlage für Helmut Kreuzers erstmals 1968 erschienene Darstellung typischer Einstellungen und Verhaltensweisen der Boheme. Er beschreibt und dokumentiert die Lebensgewohnheiten und den sozialen Habitus der Bohemiens ebenso wie das Verhältnis zur städtisch-industriellen Zivilisation, zur bürgerlichen Arbeitswelt und Geldwirtschaft, zum kenntlich werdenden Warenstatus des Kunstwerks und zur Politik. Helmut Kreuzer gelingt ein über einen Zeitraum von nahezu einem Jahrhundert reichendes, bestechend scharfes Bild antibürgerlicher Protesthaltungen. --- "Auf, auf, zum Kampfe gegen das häßliche Raubtier, den beutelüsternen, tausendköpfigen Kaiser von morgen, den Gottesleugner und Antichrist", so forderte im Jahre 1919 der expressionistische Dichter und Maler Ludwig Meidner.Und der Dadaist Richard Huelsenbeck stimmte in diesen Schlachtruf ein: "Alles soll leben, aber eines muß aufhören -- der Bürger, der Dicksack, der Freßhans, das Mastschwein der Geistigkeit, der Tierhüter aller Jämmerlichkeit."Nein, diesen Pharisäer und Opportunisten, arbeitsam, sparsam und mittelmäßig, ordentlich, reinlich, pünktlich und autoritätshörig, immer auf Wohlstand und guten Ruf bedacht -- diesen verknöcherten Bourgeois, Spießer, Philister, Banausen schätzten sie gar nicht.Da priesen sie lieber Armut, Anarchie, Exzeß und Müßiggang und spuckten auf Juste-Milieu. Sie waren Kinder der "Boheme", die in den Großstädten des 19. Jahrhunderts so üppig erblühte und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts "wieder provozierend sichtbar" wurde -- denn als rechte Bohemiens, so belehrt der deutsche Germanist Helmut Kreuzer, 41, in einer soeben publizierten Boheme-Studie, dürfen schließlich auch die Beatniks, Hipsters, Hippies und Provos, die zeitgenössischen Happening-Artisten und die Kommunarden in Berlin gelten*.Sie alle sind, laut Kreuzer, legitime Nachfahren der Jünger Jean-Jacques Rousseaus, denen "die Idee von wackern Vagabunden, edeln Räubern, großmüthigen Zigeunern und sonst allerlei idealisiertem Gesindel" (Goethe) so sehr am Herzen lag, daß sie sich selber Zigeuner (französisch: bohémiens) nannten.In seinem Buch, einer überarbeiteten Habilitationsschrift, hat Helmut Kreuzer eine "typisierende Beschreibung" dieser "Subkultur von Intellektuellen" zu geben versucht. Wichtigstes Merkmal: "Nicht im Werk, sondern im Leben bezeugt sich das Künstlertum" des Bohemiens.Einen einzigen Idealtyp freilich hat Kreuzer in der Boheme-Literatur aus fast anderthalb Jahrhunderten nicht entdecken können, er fand nur Typen. Der Franzose Henry Murger zum Beispiel zeichnete 1851 in seinen "Scènes de la Vie de Bohème" das "verbürgerlichte Bild vom unbürgerlichen Außenseiter", der, unbekümmert um Revolutionen, in romantischer Armut lebt.Die Boheme, heiter verklärt und durch Puccinis Oper (1896) vollends popularisiert, war für Murger ein Durchgangsstadium, ein Lied von der* Helmut Kreuzer: "Die Boheme". J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart; 452 Seiten; 36 Mark.schönen Jugendzeit -- für den französischen Romancier (und Murger-Feind) Jules Vallès hingegen war sie eine der mittellosen Intelligenz aufgezwungene Lebensform.Der Katholik Léon Bloy (1846 bis 1917), ein Feind des "Schuftes" Vallès und zeitlebens ein Schmähredner von höchsten Graden, beschrieb im Roman "Der Verzweifelte" wieder einen anderen Bohemien: einen Künstler mit "Durst nach Absolutem", der sich aus dem "Schweinetrog bürgerlicher Klugheit" rettet und zugleich der "vom Teufel besessenen Schändlichkeit des Bohemelebens" ausliefert.Spätere Autoren, so Peter Hille, August Strindberg und die Schwabinger Gräfin Franziska zu Reventlow, Otto Julius Bierbaum, Franz Werfel und Leonhard Frank, haben diese drei Boheme-Typen nur noch variieren können.Else Lasker-Schüler besang 1912 das Berliner Künstler-"Cafö des Westens", das als "Café Größenwahn" berühmt wurde. Der Pole Stanislaw Przybyszewski, von Nietzsches Geist beflügelt, jubelte 1895: "Ich bin der Übermensch: gewissenlos, grausam, herrlich und gütig. Ich bin Natur."Und noch vier Jahrzehnte danach delirierte der Amerikaner Henry Miller: "Seite an Seite mit der Menschengattung geht eine andere Gattung einher, die Unmenschlichen, die Gattung der Künstler ... Ihre Füße waten ständig in Blut und Tränen, ihre Hände sind immer leer, sie tasten und greifen stets nach dem Jenseitigen. dem Gott außer Reichweite. Um das Ungeheuer zu beschwichtigen, das an ihren Eingeweiden nagt, schlachten sie alles hin, was in ihren Bereich kommt ...""Ein Mensch", schrieb Miller, "der zu dieser Gattung gehört, muß sich an erhöhter Stelle mit Schaum vor dem Munde hinstellen und sich die Eingeweide aus dem Leib reißen. Es ist gut und recht, denn er muß!"O ja, am Selbstgefühl hat es ihnen nie gemangelt. Um den Bourgeois zu verblüffen, zogen sie eine rote Weste an (Théophile Gautier), stülpten sich eine grüne Perücke (Charles Baudelaire) oder einen gläsernen Hut (Filippo Tommaso Marinetti) auf den Kopf und sympathisierten mit "den Ausgestoßenen, den Zertretenen, den Gequälten" (Hugo Ball).Kein Wunder, daß sie nur lebensfähig waren in Gesellschaften, die (laut Kreuzer) "ausreichend individualistischen Spielraum gewähren und symbolische Aggressionen zulassen". Als sich der Münchner Ex-Bohemien Hitler zum Führer des Bürgertums erklärte, ging die Boheme in die Emigration.Den Linken blieb die Boheme, die Karl Marx einst als "Lumpenproletariat" und "Abhub aller Klassen" verdammt hatte, nicht minder suspekt ihr "zwiespältiges Verhältnis zur Klasse der Arbeiterschaft" (Kreuzer) war allzu offenkundig."Es lebe der Kommunismus und die katholische Kirche!" hatten die österreichischen Literaten Franz Blei und Albert Paris von Gütersloh zur Feier der Novemberrevolution von 1918 ausgerufen, und dieses Vivat klang in katholischen wie kommunistischen Ohren gleichermaßen schlecht." Der Erztyp der Boheme". so deutete der Soziologe Theodor Geiger, "ist der Anarcho- Nihilist.Das ist er noch heute. Und noch heute protestiert die Neue Boheme gegen "uniforme Lebensart", gegen die "Neon-Wildnis", gegen den "Götzen Geld" und den "dummdreisten Banausengeschmack". "Der Beatnik", rühmte der amerikanische Schriftsteller Norman Mailer, "ist schlampig, um sich damit gegen den Mittelstand zu stellen, dessen Zwangsvorstellung es ist, ein Mensch habe ordentlich herumzulaufen."Noch heute gilt auch das Boheme-Ideal, das Georg Büchner in seinem Lustspiel "Leonce und Lena" so umschrieb: "Und es wird ein Dekret erlassen daß, wer sich krank arbeitet, kriminalistisch strafbar ist; daß jeder, der sich rühmt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen, für verrückt und der menschlichen Gesellschaft gefährlich erklärt wird." (Spiegel, 1968)