Ein Ehepaar, Mitglieder der Jugendbewegung der 20er Jahre, versucht auf einem unbewirtschafteten Stück Land autark zu leben. --- Die deutsche Autorin Gudrun Pausewang, die vor allem durch Kinderbücher bekannt geworden ist, hatte keine Kindheit wie die meisten anderen. Denn ihre Eltern waren aufs Land gezogen, um möglichst autark zu leben und ihre eigenen Prinzipien zu verwirklichen. Siegfried und Elfriede Pausewang lernten einander im reformpädagogischen Kinderheim Veckenstedt kennen, wo Siegfried, der Landwirtschaft studierte, Praxiserfahrung sammeln wollte. Sein Traum war es, zu "siedeln", wie man damals das Gründen von Landkommunen nannte. Elfriede war Erzieherin und sehr davon angetan, dass Kinder und Erwachsene in Veckenstedt einfach ihren Alltag gemeinsam bewältigten, wozu auch teilweise Selbstversorgung gehörte.
Alle redeten einander mit dem Vornamen an und waren per du, man erntete und wusch die Wäsche, sang dabei Lieder und ging an heissen Sommertagen nackt im Teich baden. Keinem Kind musste aufgetragen werden, was zu tun war, alle wollten selbstverständlich etwas zur Gemeinschaft beisteuern. Siegfried und Elfriede kamen aus der populären Wandervogel-Bewegung, in der die Jugend Ende des 19. Jahrhunderts aus der Enge der bürgerlichen Salons in die Natur aufgebrochen war. Das Programm mutet uns heute nicht so revolutionär an, bestand es doch aus "Fahrten", was bedeutete, am Wochenende und in den Ferien zu wandern, im Heu zu übernachten, sich selbst zu versorgen und abends am Feuer Lieder zu singen.
Es war aber für beide Geschlechter, wohl für Mädchen noch mehr als für Burschen, ein Bruch mit Traditionen. Wandervögel hatten Sehnsucht nach einem anderen, wahrhaftigeren Leben und lehnten bis zu einem gewissen Grad auch den in jener Zeit üblichen Konsum ab. Die Burschen erteilten den Burschenschaften mit ihrem Machogetue eine deutliche Absage, und dennoch waren die Wandervögel keine politische Bewegung. Elfriede Pausewang meint rückblickend, dass es den Nazis bei einer politischeren Jugend kaum gelungen wäre, an die Macht zu kommen. Tatsächlich fand das Regime auch Anknüpfungspunkte in der Jugendbewegung, mussten deren Organisationen aber gleichschalten. Widerstand artikulierte sich nicht beim Wandern, auch wenn manches weiter bestand, sondern beispielsweise in der Swing-Jugend, die sich anders kleidete und amerikanische Musik liebte, oder bei den Edelweisspiraten und der Leipziger Meute. Gudrun und ihre Eltern lebten jedoch fernab dieser Welt, ganz im harten und doch schönen Alltag der Siedler engagiert. Der Ort der Träume war die Rosinkawiese in Wichstadtl an der tschechischen Grenze ("Rosinenwiese" im schlesischen Dialekt, ein ironisches Wort für einen trockengelegten Sumpf, denn Rosinen konnten sich nur Reiche leisten). Hier wurde ein Haus gebaut, versucht, möglichst viel selbst anzupflanzen.
Die Pausewangs hatten die LebensreformerInnen als Vorbild, denen sie sich auch zugehörig fühlten: "Die einzelnen Bewegungen entstanden als Reaktion auf Entwicklungen der Moderne, die sie nicht als Fortschritt, sondern als Verfallserscheinungen ansahen. Wesentlich für ihre Entstehung war die Befürchtung, dass die moderne Gesellschaft beim Einzelnen zu 'Zivilisationsschäden' und Krankheiten führe, die durch eine Rückkehr zu 'naturgemäßer Lebensweise' vermieden und geheilt werden könnten. 'Der Mensch in seiner zivilisationsbedingten Not sollte allerdings nicht im banalen Sinne geheilt werden. Die Lebensreform wollte sein Heil, seine Erlösung. (...) Die Weltanschauung der Lebensreform beinhaltet im Kern eine säkularisierte gnostisch-eschatologische Erlösungslehre.'
Vertreter der Lebensreform propagierten eine naturnahe Lebensweise, Ökologische Landwirtschaft, Vegetarismus, Reformkleidung, Naturheilverfahren etc. und reagierten damit auf die aus ihrer Sicht negativen Folgen der gesellschaftlichen Veränderungen im 19. Jahrhundert. Auch die Reformhäuser entstanden auf Initiative von Lebensreformern. In geistiger Hinsicht wandte sich die Lebensreform neuen religiösen und spirituellen Anschauungen zu, unter anderem Theosophie, Mazdaznan und Yoga.
Ihre bauliche Ausprägung erhielt die Lebensreform zunächst in Siedlungsexperimenten wie dem Monte Verità und später in der Gartenstadtbewegung, wie der Siedlung Hellerau und vieler anderer, deren bekanntester Vertreter der Architekt Heinrich Tessenow war. Die erste Gründung in Deutschland war im Jahre 1893 die Obstbau-Genossenschaft Eden bei Oranienburg. Die Lebensreform war eine hauptsächlich bürgerlich dominierte Bewegung, an der auch viele Frauen teilnahmen. In der Körperkultur ging es darum, unter dem Eindruck von Industrialisierung und Verstädterung den Menschen viel frische Luft und Sonne zu verschaffen."
Siegfried und Elfriede hatten Hilfe von Siegfrieds in Wichstadtl lebender Familie, unterschieden sich jedoch im Lebenswandel sehr von den Menschen im Dorf. Sie waren im Wald schon mal nackt anzutreffen, ernährten sich vegetarisch (auch weil dies weniger Anbaufläche erfordert), gönnten ihren Hühnern einen Stall mit viel Licht, liessen ihre Ziegen draussen weiden und benutzten Rucksäcke wegen der Gewichtsverteilung. Mit vielem konnte die traditionell denkende Bevölkerung wenig anfangen, besonders damit, dass die Kinder, wie sich die älteste Tochter Gudrun (geboren 1928) erinnert, früh aufgeklärt wurden und wussten, wie Babies entstehen. Im selbstgebauten Haus wurde lange mit Kisten und geschenkten Möbeln improvisiert, es gab anfangs auch keinen elektrischen Strom. Die Kinder bekamen nur von anderen gekaufte Spielsachen, während die Eltern aber mit ihnen bastelten und ihnen auch fantasievolle Geschenke zu Weihnachten machten. Sie hatten genug wenn auch geflickte Kleidung, liefen an heißen Sommertagen ohnehin meist nackt herum und wurden auch immer satt. Autarkie war nicht zu verwirklichen, da vor allem Erdbeeren und Blumen gediehen, die man verkaufen konnte. Beim Versuch, Obstbäume zu kultivieren, gab es aber Rückschläge.
Schliesslich musste Siegfried eine Stelle als Landwirtschaftslehrer annehmen, was dann leichter wurde, als das Sudetenland an Deutschland "angeschlossen" war, denn nun war er kein Ausländer mehr. Freilich kam dann bald der Krieg, in den er eingezogen wurde, während Elfriede mit den mittlerweile sechs Kindern die Hilfe von Kriegsgefangenen oder verschleppten Mädchen hatte. Sie behandelte diese Menschen sehr gut, was jedoch ihren Erinnerungen nach auch bei den Bauern üblich war. Die Familie war 1943 zum letzten Mal zusammen, dann fiel Siegfried an der Front. 1945 brachen Elfriede und die Kinder mit einem kleinen Handwagen auf und ließen die Rosinkawiese für immer zurück.
Gudrun schildert eine Episode, wo ihr endlich eine Mitschülerin verspricht, sie besuchen zu kommen, aber ausbleibt. Die Kinder hatten als Preis des anderen Lebens nur einander als SpielgefährtInnen und FreundInnen, und natürlich die Erwachsenen, zu denen zeitweise auch Pensionsgäste gehörten. Gudrun schreibt: "Ich spürte schon während der ersten Schuljahre, dass ich anders als die anderen Kinder war und dass sie in mir auch die Andersartigkeit sahen. Nicht nur, dass ich mehr Bildung als sie mitbrachte. Es gab noch viel mehr, was die Kluft zwischen ihnen und mir vergrößerte. Daheim hörten sie die Eltern über uns reden: Meine Mutter war keine Einheimische, nicht einmal eine Sudetendeutsche, sondern war aus Deutschland rübergekommen.
Mein Vater wurde als - wenn auch geachteter - Sonderling angesehen. Wie konnte sich auch ein halbwegs normaler Mensch, noch dazu ein Akademiker, auf einer so unfruchtbaren Wiese niederlassen und sich förmlich daran festklammern? Wir aßen kein Fleisch und tranken keinen Alkohol - in den Augen der Umwelt war das eine unverständliche Askese, die sicher manchen Wichstädter zu der Frage veranlasste: Wozu leben sie dann überhaupt? Statt Fleisch aßen wir große Mengen von Gemüse. In der böhmischen Küche aber spielte Gemüse eine verhältnismäßig nebensächliche Rolle. Noch schlimmer: meine Eltern erzählten uns den wahren Sachverhalt über das Kinderkriegen - für die Wichstädter geradezu unerhört.
Und es hatte sich herumgesprochen, dass sie uns nackt herumlaufen liessen. Nicht zu fassen! Auch die Tiere brachten wir anders unter als die Adlergebirgler. Und wenn jemand aus dem Dorf bei uns vorüberkam, konnte er uns meistens singen hören. In Wichstadtl sang niemand bei der Arbeit. Es war nicht Brauch, vor sich hinzusingen." Alles wurde genau registriert, auch dass Siegfried einen Bart hatte und kurze Hosen trug. Gudrun und die ihr altersmäßig am nächsten liegenden Geschwister hatten es als Folge ihrer Außenseitererfahrung schwer, gegenüber anderen Lebensweisen tolerant zu sein, sie mussten dies erst lernen. Die Kinder und die Mutter nahmen ihre Erfahrungen mit und konnten sie gerade in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit nutzen, wo ihnen die Armut weniger ausmachte als den meisten anderen.
Es war auch sehr hilfreich, ohnehin schon Übung zu haben beim Umarbeiten gebrauchter Kleidung und bei der kreativen Wiederverwertung alten Materials. Gudrun Pausewang, die 2006 das Buch "Ärmer werden - na und!" veröffentlichte, meint, dass die alten Fertigkeiten wieder benötigt werden. Und sie vermutet, dass wir anders und weniger konsumorientiert leben würden, hätten NS-Regime und Krieg nicht auch den frühen Alternativbewegungen ein Ende bereitet.