Dieses Buch hat den Ruhm des Psychoanalytikers Alexander Mitscherlich als Zeit- und Gesellschaftskritiker international begründet. Mitscherlich entwirft ein sozialpsychologisches Bild unserer Epoche, das seine Gültigkeit bis heute nicht verloren hat. Er zeigt auf wohin eine Gesellschaft steuert, die Abschied nimmt von symbolischen Vorbildern und Idealen. Insofern ist das Buch auch ein zutiefst pädagogischer Gesellschaftsentwurf. Die »Hierarchie der Vaterrolle« zerfällt, die prägenden Vorbilder verblassen. Die daraus entstehenden Konflikte erzeugen neuartige neurotische Verhaltensweisen wie Indifferenz dem Mitmenschen gegenüber, Aggressivität, Destruktivität und Angst. Als einen der folgenreichsten Konflikte unserer Zeit bezeichnet Mitscherlich die paradoxe Entwicklung, dass der einzelne immer mehr »subjektive Autonomie« fordert und auch erlangt, zugleich sich aber den bürokratischen und anderen konformistischen Zwängen immer stärker unterordnen muss."Daß aus den jungen Leuten nichts wird, hat schon immer die Sozialwissenschaftler besorgt. In seinem Buch »Auf dem Weg in die vaterlose Gesellschaft« drückte Alexander Mitscherlich bereits 1963 seinen Unmut darüber aus, daß sich die Jüngeren nicht mehr an den Älteren reiben. Die Vorbildrolle, an der man sich abarbeiten konnte und mußte, zerfällt, lautete seine, nur als Warnung zu verstehende Diagnose.Der Generationenkonflikt, der eine Konstante des Erwachsenwerdens ist, schien sich vor seinen Augen immer mehr zu verflüchtigen. Mitscherlich befürchtete eine unheilige Allianz zwischen paternalistischer Autorität und Konsumismus. »In der unübersichtlichen Massengesellschaft«, schrieb er, »hat diese autoritäre Form der Eingewöhnung in das soziale Feld aber eine unerwartete Antwort gefunden, nämlich ein Stärkung der Abhängigkeitsbestrebungen und eine Bejahung der Unmündigkeit. Das faktische Gegenbild zu den für unsere Zeitläufte charakteristischen Helden der Massen sind die 'initiativarmen" Frühpensionäre, die in ihren Wohlfahrtsstaaten nie flügge werden wollen.« Die Schlaffis der nachfolgenden Generation, die sich mit der »Nutzlosigkeit erwachsen zu werden«, herumplagen, fürchtet noch jede ältere Generation. Mitscherlich formulierte einige Jahre vor der Studentenbewegung ein Kritikschema, das die sogenannte Achtundsechzigergeneration auf alle Nachgeborenen übertrug: Die Vermutung, daß ihnen der Schwung fehlt, politische Veränderungen anzustrengen - also das Werk der Älteren fortzusetzen. Mit dem Blick auf die Folgegenerationen haben sich die Achtundsechziger so das Primat auf das Politik zu sichern versucht.Dabei verhalten sie sich kaum anders als alle Generationen zuvor." Harry Nutt in der TAZ
Inhalt
Micha Brumlik: Alexander Mitscherlichs >Erziehung zur Unsicherheit I
I Vorläufiges zur Dynamik der Anpassung 9
Der Mensch, ein extremer Nesthocker 9
Begabungsentwicklung und soziales Milieu 9
Die definitive und die geschichtsoffene Anpassung 12
Gelungene Anpassung ist nicht Fortschritt 13
Kulturelle Anpassung, ein Vorgang selektiver Zuordnung 14
Vier Grundkomponenten der Anpassung an die menschliche Mitwelt 15
Grenzen der sozialen Toleranz bei der Anpassung 16
Der spezifisch menschliche Anpassungsmodus
und seine Dynamik 18
Eine neue Funktion des Lebens: im Menschen verwirklichtes Bewußtsein 20
II Anpassung und Einsicht: Stufen der Bildung 22
Sozialer Verzicht und Triebüberschuß 22
Der aggressive Triebüberschuß 23
Wachstum und Bildung 24
Bildung ist Koordination des Suchens 25
Drei Bildungsebenen 16
Die dialektische Funktion, die Erziehung erfüllen sollte 27
Sachbildung 29
Affektbildung 30
Sozialbildung 36
Bildung, ein Kompositum 42
Affekte und die Abwehr des Fremden 4$
Geschichtlicher Wandel und Informationszwang 48
Aspekte des Ichs 49
III Der Instinkt reicht nicht aus - die Evolution zum Bewußtsein 53
Evolution zum Bewußtsein 5 3
Das Dilemma zwischen Mythologie und Forschung J4
Bewußtsein und soziale Integration 5 5
Evolution wird ihrer selbst bewußt 57
Konvergenz der Erkenntnisse 58
Die protestantische Linie 60
Die Unscharfe menschlicher Rollen 62
Rollen werden signalisiert 63
Besitz als Signalapparat 64
Das Individuum als Rollenwesen 66
Rollenverhaftung hindert die Einfühlung 65
Triebe überwältigen leicht das erlernte Rollenverhalten 69
Rolle und Maske 72
Die Verklärung der Vergangenheit 74
Die überforderte Frau 76
Tierexperiment ad hominem 78
»Reeducation« 84
IV Von der Hinfälligkeit der Moralen 93
Triebsteuerung schafft Identität 93
Ein Verzicht, der befriedigt 94
Ein Verzicht, der nicht befriedigt 95
Kollektive Strukturänderungen des Selbstbewußtseins 96
Fragen der Größenordnung 98
Beschönigung oder Fatalismus? 101
Der Kulturzwang zur bösen Tat 103
Hoffnung gehört zur »Offenheit« des Menschen 108
V Exkurs über die Triebdynamik 111
Triebverlangen und Schuldangst 111
Erstarrungsformen 114
Triebverschränkung 118
Triebfeindlichkeit 119
Konservativismen 124
Terminologisches 127
Identifizierung und Gebot 128
Ambivalenz und Entzweiung 132
Die inneren Objekte 137
VI Ich und Ichideal 144
Gute Vorbilder und schlechte Folgen 144
Zweifelhafter Ahnenkult 144
Motivationskonflikte 147
Wie man Gebote umgehen kann 149
Das Ich verwandelt Energie 151
Einfühlung: Voraussetzung der Ichentwicklung 153
Die Mitläufer 155
Eine Folge des Paternismus 157
Ichideal im offenen sozialen Feld 158
Guter Rat ist unerläßlich 161
Der aufgeklärte Funktionär 165
Väter, die von den Söhnen lernen können 167
Erziehung zur Ichstärkung 170
VII Der unsichtbare Vater 172
Identifikationen schaffen das Verhaltensrepertoire 172
Die affektive und die sachbezogene Entfremdung 175
Magisches Denken und Konservativismus 180
Die Entleerung der Autorität 183
Der klassenlose Massenmensch 185
Das Schreckgespenst »Vater« 188
Ambivalenzkonflikte 191
Wurzeln der Aufstiegsmanie 195
Verlängerte Wachstumskrisen - ungestillter Identifikationshunger 198
Entväterlichung in der überorganisierten Gesellschaft 21
VIII Gehorsam - Autonomie - Anarchie 20J
Gehorsam und Auflehnung 205
Triebgehorsam 208
Lerngehorsam 211
Ambivalenz 214
Die verstörende Strafe 217
Starres und entwicklungsoffenes Gewissen 220
Sublimierung und Ichentfaltung 225
Wiederholungszwang 228
Regressive Idealisierung 229
Die Stätte der Angst 234
Angsterweckung als Herrschaftsmittel 236
Der Ich-»Gehorsam« 240
Einfühlung und Distanz 242
Erziehung zur Unsicherheit - Exkurs über den Unionsgedanken in der Politik 245
Postskriptum: Der Befehlsverband 252
IX Exkurs: Vom geahnten zum gelenkten Tabu 256
X Rollen 264
Mit der Ehre unvereinbar 264
Kollektive Suchhaltungen 266
Das Grenzbedürfnis der Gruppen 267
Regression en masse 270
Manager und Apparatschik 271
Gehorsamsbereitschaft und Terrorneigung 273
Eine Enttäuschung 275
Kleine Verhältnisse und Überfluß 276
Klärendes zur Aufklärung 279
Der gesicherte Vorwand 282
Das Übersteigen der Rolle 284
XI Vorurteile und ihre Manipulierung 288
Grundrechte - die Antithese zum Vorurteil 288
Vorurteilsgehorsam 292
Pseudologik 297
Instrumente der Herrschaft 298
Sacrificium intellectus 301
Vom Staat zur Verwaltungsgottheit 307
Antworten auf große Kränkungen 310
Vorurteil und Gewissen 314
Konfrontation mit dem Vorurteil über sich selbst 316
Kurze Apologie des Klatsches 322
XII Massen - oder: Zweierlei Vaterlosigkeit 326
Von der ödipalen Rivalität zum Geschwisterneid 326
Die interessierten Agenten 328
Beziehungsarme Kindheit - lebloses Alter 330
Der Distanzeffekt 331
Verletzung des Eigenterritoriums und Triebentmischung 334
Vaterlosigkeit ersten und zweiten Grades 337
Träumerisches Ichideal 341
Der spurlos verschwindende »Führer« 344
Militärischer Exkurs 347
Die ökonomische Bedeutung der Idole 350
Beispiele eines Ordnungsgedankens 355
Die Bindungsangst der Geschwister 361
XIII Nachwort und Dank 368
Emanzipation 368
Zur Methode 370
Verfremdung gegen Entfremdung 374
Persönlicher Dank 376
Anmerkungen 378
Personenregister 389
Sachregister 392