Otto Böhm, Doris Katheder: Grundkurs Menschenrechte. Die 30 Artikel
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Cover Otto Böhm, Doris Katheder: Grundkurs Menschenrechte. Die 30 Artikel. Kommentare und Anregungen für die politische Bildung Bd. 2. Echter Verlag GmbH (Würzburg) 2012. 258 Seiten. ISBN 978-3-429-03522-8. D: 19,90 EUR, A: 20,50 EUR, CH: 28,50 sFr.
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Die Menschenrechte haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen erstaunlichen Aufschwung genommen. Zunehmend ist ein Bewusstsein gewachsen, dass es sich dabei nicht allein um ein Thema für Juristen handelt. Ein Motor dieser Entwicklung ist die Dekade zur Menschenrechtsbildung gewesen, welche die Vereinten Nationen von 1995 bis 2004 ausgerufen hatten. Eines der Ziele war, menschenrechtsrelevante Berufsgruppen im Umgang mit den Menschenrechten zu schulen und so eine Kultur der Menschenrechte zu befördern, die Menschenrechtsverletzungen präventiv entgegenwirkt.
In Deutschland ist es vor allem die Stadt Nürnberg, die sich in diesem Feld besonders engagiert. Die ehemalige "Stadt der Reichsparteitage" versteht sich heute als "Stadt der Menschenrechte" (ein Foto der Nürnberger "Straße der Menschenrechte" eröffnet auch unmittelbar den Band). Getragen werden die Menschenrechtsaktivitäten u. a. von der in Nürnberg ansässigen Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus. Das akademieeigene Referat "Erinnerung - Menschenrechte - Werte" hat schon zahlreiche menschenrechtsdidaktische Projekte auf den Weg gebracht. Mit einem neuen "Grundkurs Menschenrechte" werden die dabei gesammelten Erfahrungen nun auch in gedruckter Form zugänglich gemacht.
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Autor und Autorin kommen aus der politischen Bildungsarbeit.
*** Otto Böhm, Politik- und Erziehungswissenschaftler, ist neben seiner Tätigkeit in einem Medienverlag als Menschenrechtsbildner in Nürnberg tätig.
*** Doris Katheder, promovierte Kulturhistorikerin, leitet das Ressort "Erinnerung - Menschenrechte - Werte" an der katholischen Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg.
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Entstehungshintergrund
Der vorliegende Band ist der zweite eines auf fünf Bände angelegten Kommentars zu den dreißig Artikeln der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Erwachsen ist der Band aus der Menschenrechtsbildung der Akademie Caritas-Pirckheimer-Haus Nürnberg. Die Bamberger Diözesanakademie zeichnet auch als institutioneller Herausgeber für das Kommentarwerk verantwortlich. Am Ende des Bandes findet sich ein Nachwort aus der Feder des Akademiedirektors, Siegfried Grillmeyer (S. 254 - 258). Zahlreiche Wissenschaftler haben durch Interviews an dem Werk mitgearbeitet, beispielsweise Hauke Brunkhorst, Rainer Huhle oder Elisabeth Holzleithner. Einzelne Textpassagen sind aus Bardo Fassbenders Standardwerk "Menschenrechteerklärung" übernommen worden.
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Aufbau
Der zweite Band des Kommentarwerkes widmet sich den Artikeln 6 bis 11 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948, im Einzelnen also dem Recht, überhaupt als Rechtsperson anerkannt zu werden, dem Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz, dem Rechtsanspruch auf Rechtsschutz, dem Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Ausweisung, dem Rechtsanspruch auf ein faires Gerichtsverfahren und dem Rechtsgrundsatz der Unschuldsvermutung. Zu Beginn des Bandes wird der Leser in den Rechtscharakter der Menschenrechte (S. 10 - 23), der in den genannten Artikeln besonders deutlich zum Tragen kommt, sowie in Aufbau, Geschichte und Rezeption der Allgemeinen Menschenrechtserklärung eingeführt (S. 24 - 31).
Der Band widmet den einzelnen Artikeln, die kommentiert werden, jeweils rund dreißig Seiten. Die Erklärungen folgen jeweils einem einheitlichen Schema: Kurzkommentar, Kommentierungen und Kontroversen, Empfehlungen (z. B. auf Projekte oder Internetseiten) und Literaturhinweise. Am Ende steht jeweils ein Interview, das den betreffenden Artikel noch einmal aus wissenschaftlicher oder praxisbezogener Perspektive beleuchtet.
Jeder Teilband setzt darüber hinaus inhaltlich Schwerpunkte: Ein einleitender Beitrag widmet sich in diesem Fall den Instrumenten des Menschenrechtsschutzes auf europäischer Ebene (S. 32 - 45); ein Schlussbeitrag von Christine Burmann und Doris Katheder sowie zwei Interviews am Ende des Bandes greifen die Themen Inklusion und Partizipation auf (S. 212 - 252).
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Inhalt
Der Band beginnt mit einer Frage: "Recht als Medium der Humanität"? Deutlich legen die beiden Autoren an dieser Stelle ihr Verständnis der Menschenrechte offen, das sie bei den folgenden Kommentierungen voraussetzen: Die Menschenrechte gehören zwei Sollensordnungen an, dem Bereich des Rechts und der Moral. Sollen sie wirksam geschützt werden, dürfen sie weder in die eine noch in die andere Richtung verkürzt werden, also weder einseitig als rein juridische Rechte noch als rein moralische Rechte missverstanden werden.
Dass die Menschenrechte mehr sind als wohlmeinende moralische Appelle wird anhand der dargestellten Instrumente des europäischen Menschenrechtsschutzes sehr deutlich. Anschaulich wird beispielsweise beschrieben, wie ein Individualbeschwerdeverfahren angestoßen und durchgezogen werden kann.
Artikel 6 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sichert dem Einzelnen das Recht, überhaupt Rechte zu haben. Wer nicht als Rechtsperson anerkannt ist, könnte auch seine Menschenrechte nicht einklagen. Der Kommentar verweigert sich dabei sowohl einem überzogenen Individualismus als auch der Versuchung, die Menschenrechte in Gruppenrechte aufzulösen. Träger von Rechten seien immer Individuen, die allerdings in soziale Gemeinschaften eingebettet bleiben.
Artikel 7 umfasst zwei Aspekte: den Gedanken der Rechtegleichheit und das Gebot der Gleichbehandlung in der Rechtsprechung. Im Sinne der dreifachen Verpflichtung des Staates, die Menschenrechte zu achten, zu schützen und zu erfüllen, wird darauf hingewiesen, dass der Gleichheitssatz nicht allein als Abwehrrecht zu verstehen ist. Mitunter kann es auch geboten sein, bestimmte Ungleichheiten durch aktives Handeln des Staates zu kompensieren und auszugleichen.
Diese Linie setzt sich auch bei der Kommentierung von Artikel 8 fort. Hier wird betont, dass ein wirksamer Grundrechtsschutz nicht allein auf negative, sondern auch positive Freiheiten zu achten habe. Zwar entstünden aus neuen sozialen Formationen noch nicht in jedem Fall neue Grundrechte, doch seien neue Risiken im politischen und gesellschaftlichen Zusammenleben als Herausforderungen ernstzunehmen. Die Grundrechte werden schal, wenn sie den Bezug zur sozialen und politischen Wirklichkeit verlieren. Für die politische Bildungsarbeit sei es wichtig, berechtigte Skepsis an dieser Stelle wahrzunehmen und für die Aufarbeitung konkreter Grundrechtekonflikte fruchtbar zu machen.
Artikel 9 soll den Einzelnen vor willkürlicher Verhaftung bewahren. An verschiedenen Beispielen wird deutlich vor Augen geführt, wie dieser Grundsatz verletzt werden kann. In Deutschland ist der Richtervorbehalt weitgehend unbestritten, dennoch komme es in der Praxis zu Uneindeutigkeiten, die zumeist mit "Gefahr im Verzug" begründet würden.
Artikel 10 definiert die Mindeststandards an ein faires Gerichtsverfahren. Der Rechtsstandard in Deutschland sei grundsätzlich sehr hoch. Probleme, so Julia Zinsmeister im Interview, gäbe es in Deutschland vor allem bei Personen, deren Kommunikationsmöglichkeiten oder sprachliche Kompetenzen eingeschränkt seien.
Artikel 11 fordert eine besondere menschenrechtliche Sorgfalt im Umgang mit den scharfen Instrumenten des Strafrechts ein. Diese Sorgfalt konkretisiert sich in Deutschland beispielsweise im Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes. Besondere Probleme im Zusammenhang mit schwerwiegenden Verletzungen der Menschenrechte und der Menschlichkeit werden am Beispiel der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und der Mauerschützenprozesse diskutiert.
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Diskussion
Wenn die Menschenrechte zwei Sollensordnungen angehören, dann sind diese nicht allein ein Gegenstand der ethischen Bildung, sondern auch der Rechtskunde. Auch wenn sich die Bundesrepublik konstitutiv als Rechtsstaat versteht, ist dieses Fach in der Schule nur äußerst rudimentär vertreten. Und auch in der Erwachsenenbildung werden selten dezidiert rechtskundliche Zugänge beschritten. Wer schon einmal in der Menschenrechtsbildung tätig war, wird schnell festgestellt haben, wie schwer es fällt, ein differenziertes Verständnis über den juridischen Charakter der Menschenrechte zu vermitteln. Sollen die Menschenrechte allerdings nicht verwässert werden, wird es auf Dauer wichtig sein, die Justiziabilität der einzelnen Rechte nicht aus dem Blick zu verlieren. Positiv hervorzuheben ist daher vor diesem Hintergrund, dass der vorliegende Kommentar ausdrücklich den Brückenschlag zwischen Rechtserziehung und Menschenrechtsbildung wagt.
Dem Kommentar gelingt es, den Rechtsgehalt der Menschenrechte für juristische "Laien" verständlich und nachvollziehbar darzustellen. Für Pädagogen, Andragogen oder Lehrer, die in der Menschenrechtsbildung tätig sind, ist der vorliegende Kommentar somit ein wertvolles Instrument. Einzelne Text- oder Interviewauszüge könnten auch als Arbeitstexte in entsprechenden Lehrveranstaltungen Verwendung finden.
Der vorliegende Kommentar folgt bei alldem dem aktuell erreichten Stand der Menschenrechtsinterpretation. Allerdings wäre es wünschenswert gewesen, wenn in den einzelnen Kommentierungen das für die Menschenrechte bestimmende und unverzichtbare Spannungsverhältnis zwischen Freiheits- und Gleichheitsaspekten sorgfältiger diskutiert worden wäre. Im Bemühen, ein umfassendes Verständnis der Menschenrechte stark zu machen, gerät mitunter deren negativ-rechtlicher Anteil etwas ins Hintertreffen. So wird der äußerst problematische Begriff der "positiven Diskriminierungen" (S. 84) verwendet. Benachteiligungen auszugleichen, hört sich zunächst einmal unverfänglich an. "Positive Diskriminierung" meint allerdings, dass es um mehr als einen Nachteilsausgleich gehen müsse. Gefordert wird weitergehend eine "vorübergehende Bevorzugung" (S. 84), mit der "eine zurückliegende Benachteiligung" (ebd.) ausgeglichen werden soll. Wie dies ohne erneute Diskriminierung - und damit letztlich ohne erneuten Grundrechtsverstoß - gelingen soll, bleibt offen. Es steht zu befürchten, dass das neue Leitprinzip "Inklusion", das am Schluss des Bandes reichlich kritiklos dargestellt wird, derartige Schieflagen zukünftig noch verstärken wird. Werden die Menschenrechte als Instrument der Gesellschaftsreform missbraucht, beschädigt dies auf Dauer ihren Anspruch auf Universalität. Leider entgeht auch der vorliegende Kommentar dieser problematischen Tendenz im neueren Menschenrechtsdiskurs nicht ganz.
Störend auf den Lesefluss wirkt sich die Verwendung des Unterstrichs bei inklusiven Formulierungen aus. Hier wird des Guten zu viel getan und Nichtdiskriminierung mit bevormundender Sprachpolitik verwechselt.
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Fazit
Der Kommentar leistet einen wesentlichen Beitrag, die juridisch-moralische Doppelrolle der Menschenrechte für Nichtjuristen verständlich aufzubereiten. Wo der juridische Charakter der Menschenrechte unterbestimmt bleibt, besteht die Gefahr, dass politisch-gesellschaftliche Interessen die Überhand gewinnen und der Menschenrechtsdiskurs ideologisch überfrachtet oder moralisch überhöht wird. Beide Gefahren liegen in Menschenrechtsbildungsveranstaltungen nicht ganz fern. Der vorliegende Band kann helfen, diese Klippe zu umschiffen. Er stellt alles in allem ein wertvolles Vorbereitungsinstrument und Nachschlagewerk für jene dar, die in der Menschenrechtsbildung tätig sind.
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" Jeden Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte systematisch in den Fokus zu nehmen ist das Anliegen dieser fünfbändigen Reihe. Darin werden vor allem wesentliche, im jeweiligen Menschenrecht relevante Kommentierungen und aktuelle Kontroversen herausgearbeitet und für die politische Bildung fruchtbar gemacht.
Die Reihe bietet ein kompaktes Grundwissen über die Menschenrechte, vermittelt Einsichten in ihre Anliegen und gibt viele Anregungen für weiterführende Auseinandersetzungen in pädagogischen und politischen Handlungsfeldern.
Im Band 2 wird erklärt, wie grundlegend "das Recht, Rechte zu haben" ist; wie damit der Person-Status von Menschen nicht nur gefeiert, sondern auch gesichert wird und wie im Alltag des Rechtsverkehrs, aber auch in gesellschaftlichen Konfliktsituationen Bürger_innenrechte als substanzielle und doch auch fragile Güter behauptet werden müssen.
Mit diesem Element politischer Bildung positioniert sich der Band 2 gegen populistische Stimmungen, die von mangelndem Menschen-Rechte-Verständnis profitieren.
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*** Einleitendes
*** Zur Einführung: Recht als Medium der Humanität?
Literatur
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in Kurztiteln
Der Aufbau der AEMR
Meilensteine des Menschenrechteschutzes
Instrumente des Menschenrechteschutzes. Teil 1: Europa
BÖHM / KATHEDER
*** Artikel 6
Kurzkommentar
kommentierungen und kontroversen: Aus dem Menschen wird - im Lauf der Geschichte - eine Rechtsperson
literatur
empfehlungen
interview: Fragen an: Hauke Brunkhorst
*** Artikel 7
kurzkommentar
kommentierungen und kontroversen: Besondere Menschen - vor dem Gesetz gleich
empfehlungen
literatur
interview: Fragen an: Elisabeth Holzleithner
*** Artikel 8
kurzkommentar
kommentierungen und kontroversen: Wirksamer nationaler Rechtsschutz gegen Grundrechtsverletzungen
literatur
interview: Fragen an: Marei Pelzer
empfehlungen
*** Artikel 9
kurzkommentar
kommentierungen und kontroversen: Recht oder Willkür - der zentrale, aber nicht allein entscheidende Unterschied
empfehlungen
literatur
interview: Fragen an: Rainer Huhle
*** Artikel 10
kurzkommentar
kommentierungen und kontroversen: Gerecht und fair
empfehlungen
literatur
interview: Fragen an: Julia Zinsmeister
*** Artikel 11
kurzkommentar
kommentierungen und kontroversen: Menschenrechtliche Sorgfalt bei den scharfen Instrumenten des Strafrechtes
literatur
Interview: Fragen an: Till Müller-Heidelberg
Empfehlungen
BURMAN / KATHEDER
*** Inklusion und Partizipation. Das Recht, Rechte zu haben, gilt für alle Menschen
Interview Fragen an: Sigrid Arnade
Interview: Fragen an: Markus Schäfers
Nachwort: Siegfried Grillmeyer: Menschenrechte - Auftrag und Verpflichtung für die politische Bildung