Auf sie stützte fast jeder europäische Fürst im 17. und 18. Jahrhundert seine Macht: jüdische Finanziers und Logistiker, politische Berater und Diplomaten, sogenannte »Hofjuden«. Das jüdische Hoffaktorentum wurde zur Institution im Dreieck von Politik, Wirtschafts- und Kulturgeschichte. Klangvolle Namen sind mit ihm verbunden. Joseph Süß Oppenheimer, genannt »Jud Süß«, wurde zum Inbegriff des deutschen Hofjuden und beschäftigt Historiker, Theatermacher und Komponisten bis in die Gegenwart. Wie real aber ist das Bild, das die deutsche Gesellschaft von ihm und anderen Hoffaktoren entwickelte, nicht zuletzt unter dem Einfluß der antisemitischen Propaganda der Nationalsozialisten? Wie einflußreich waren die Hofjuden wirklich?
Die deutsch-jüdische Historikerin Selma Stern (1890–1981) ging diesen Fragen nach, untersuchte Mythos und Wirklichkeit. Begonnen im Deutschland der zwanziger Jahre, erschien ihre Untersuchung erst 1950 im amerikanischen Exil unter dem Titel The Court Jew. Erstmals lag damit ein interdisziplinäres Standardwerk vor. Selma Stern beschreibt darin den Aufstieg und Niedergang von Hoffaktorendynastien wie Behrens, Ephraim, Gumperts, Itzig, Kann oder Wertheimer. Sie arbeitet die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Herrschern und Hofjuden heraus und richtet zugleich den Blick auf wirtschaftliche, politische, soziale, kulturelle und historische Zusammenhänge und Entwicklungen im absolutistischen Europa. Mehr als 50 Jahre nach seinem Erscheinen liegt der Band nun als deutsche Erstveröffentlichung vor. (Verlagstext)
Inhaltsverzeichnis:
DAVID SORKIN
Zum Geleit v
Vorbemerkung 1
Einleitung 6
Die Epoche des hofischen Absolutismus. Die neue Staatsauffassung. Die Idee der Staatsrason. Die Umgestaltung des Staatstypus. Der Wandel der europaischen Wirtschaft. Der Merkantilismus. Wandlung der Vorstellung vom Juden. Veranderung der rechtiichen, politischen und wirtschaftlichen Lage der Juden. Die ,Judenfrage" als poltisches Problem.
Deutschland nach dem Dreißigjahrigen Krieg. Die deutschen Fiirsten und ihr Verhaltnis zu den Juden. Der deutsche Kaufmann. Biindnis zwischen den Fiirsten und den jiidischen Unternehmern. Entstehung des Hofjudentums. Die Funktionen des Hoffaktors. Das Hofjudentum — neue und unentbehrliche Einrichtung des Absolutismus.
I. Der Kriegskommissar 17
Die Epoche Ludwigs XIV. Die europaischen Kriege. Kaiser Leopold I. von Osterreich.
Seine Regierungsaufgaben. Der österreichische Staat. Der erste Koalitionskrieg. Die Ernennung Samuel Oppenheimers zum Kriegslieferanten. Seine Tatigkeit im Reichskrieg gegen Frankreich. Enttauschungen. Seine Leistungen im Türkenkrieg und im pfalzischen Erbfolgekrieg. Schwierigkeiten. Die Haltung des Kaisers, der Feldherrn, der Beamten. Oppenheimers Unentbehrlichkeit. Sein Kredit. Kardinal Kollonitschs Versuch, ihn zu stürzen.
Sein Beitrag im Spanischen Erbfolgekrieg. Ursachen seines Erfolgs. Seine Personlichkeit. Sein Geschaftssystem. Unterlieferanten und Agenten. Oppenheimers Tod. Die Katastrophe des österreichischen Staates. Die Nachfolger Oppenheimers. Die Kriegsfaktoren der deutschen Fürsten. Israel Aron und Elias Gumperts in Preußen. Die bayrischen Faktoren Abraham Handle und Anschel Levi. Joseph Süß Oppenheimer in Württemberg. Die risikoreiche Situation der Lieferanten. Bedeutung der jüdischen Kriegskommissare.
II. Der Hoflieferant 37
Die deutschen Fiirsten am Ende des Dreißigjährigen Krieges. Der Hof als kultureller und politischer Mittelpunkt des Landes. Die Toleranz einiger Herrscher. Luxusbedürfnis der Zeit. Die internationalen Beziehungen der Hofjuden. Der jüdische Privatbankier. Luxuswaren- und Geldhandel als Grundlage der Hoffaktorentatigkeit. Die kaufmännischeTatigkeit des Joseph süß Oppenheimer. Der Hoflieferant Süß. Die Gumperts in Kleve. Israel Aron und Jost Liebmann als Hoffieferanten. Esther Liebmann. Moses Benjamin Wulff in AnhaltDessau.
III. Der Kammeragent und Resident 57
Die deutschen Fiirsten und die innere Verwaltung ihrer Lander. Die Bedeutung der Finanzen. Schwierigkeiten der Geldbeschaffung. Verwirrung im Finanzwesen. Theorien der merkantilistischen Schriftsteller. Leffmann Behrens von Hannover. Seine Personlichkeit. Seine Laufbahn als Hof- und Kammeragent und Bankier. Die französischen Subsidien. Die neunte Kurwürde und Leffmanns politische Tatigkeit. Legenden um Berend Lehmann.
Vergleich mit Jud Süß.Seine Herkunft. Der Hoffaktor des Kurfursten von Sachsen. Die
Titel der Hoffaktoren. Der Agent. Der Resident. Berend Lehmann als sachsischer Resident.
August der Starke. Sein Bundnis mit Berend Lehmann. Der Kampf um die polnische Königskrone. Berend Lehmann in Polen. Die Konigswahl. Der nordische Krieg. Lehmanns politische Verhandlungen. Berend Lehmann und Moritz von Sachsen. Samuel Oppenheimer als Glaubiger Österreichs. Finanzielle Leistungen. Samson Wertheimer. Seine Personlichkeit. Seine finanziellen Transaktionen. Der Bankier und Berater der Kaiser. Die Finanztatigkeit von Emanuel Oppenheimer, Drach, Sinzheim, Reinganum und Hirschel.
Wolf Wertheimers Beziehungen zum bayrischen Staat. Noe Samuel Isaak und Bayern. Die jüdischen Finanziers in den deutschen Kleinstaaten und in Frankfurt am Main. Diego und Manuel Teixeira in Hamburg. Ihre geschaftlichen und personlichen Beziehungen zu Königin Christine von Schweden.
IV. Der Kabinettsfaktor 105
Jud Süß— der erste jüdische politische Typus der neueren Geschichte. Gestalter der politischen und wirtschaftlichen Struktur eines Staates. Karl Alexander von Wurttemberg als serbischer Statthalter. Regierungsantritt in Württemberg. Die Verfassung des Landes. Die Stande. Regierungsziele des neuen Herzogs. Opposition der Minister und Stande. Süß als politischer Berater. Reorganisation des Regierungswesens. Finanzpolitische Neuerungen.
Das Verhältnis zwischen Karl Alexander und Süß Intrigen der Beamten und der Hofgesellschaft. Karl Alexander und die Stande. Die Staatstheorien von Süß Versuch der Katholisierung des Landes und der Verfassungsanderung. Oppenheimers Anteil an den revolutionaren Umtrieben. Der Tod Karl Alexanders. Die Verhaftung von Süß
V. Der Kommerzienagent 122
Der jüdische Wirtschaftsunternehmer. Staatswirtschaft. Merkantilistische Bestrebungen der Herrscher. Ihr Bündnis mit den Juden. Die Opposition der christlichen Kaufleute. Der
Große Kurfürst und die preußischen Hoffaktoren. Moses Jacobsons Handelstatigkeit in
Memel. Der Luxuswarenhandel der Hofjuden. Die Handelstatigkeit der Hofjuden in Sachsen. Berend Lehmann als Kaufmann. Die -wirtschafuiche Tatigkeit der Hofjuden in den deutschen Kleinstaaten und Frankfurt am Main. Die Hofjuden in der Handelspolitik Friedrichs des GroBen. Die Hofjuden als Faktoren der industriellen Entwicklung. Die Fabriken von Gumperts und Ulff in Berlin. Die Baumwollmanufakturen der Wulffs. Pinthus Levi aus Rathenow. Veitel Ephraim und Daniel Itzig als Fabrikanten. Die schlesischen Fabrikanten Moses Heymann und Daniel Kuh. Joseph SiiB Oppenheimer und die industrielle
ErschlieBung Wiirttembergs. Die Bankunternehmung der Hofjuden. Die Hofjuden als Träger der Monopole.
VI. Der Münzlieferant 148
Das Geld- und Miinzwesen im Zeitalter des Absolutismus. Die fiskalische Geldpolitik der Regierungen. Die Rolle der jiidischen Gold- und Silberlieferanten. Die österreichischen Münzjuden. Die sachsischen Münzlieferanten. Moses Benjamin Wulff in Dessau. Joseph Süß Oppenheimer als Münzunternehmer. Israel Aron und Esther Liebmann in Preußen.
Die Münzunternehmer Friedrichs des Großen. Der Siebenjahrige Krieg und die Münztätigkeit Veitel Ephraims und Daniel Itzigs. Ihre Erfolge. Ihre Schwierigkeiten. Friedrich der Große als der alleinige Urheber der preußischen Geldpolitik. Der Reichtum der Münzpachter. Ihre Verluste. Beurteilung ihrer Tatigkeit.
VII. Der Schtadlan und Fürsprecher 163
Die jüdische Gemeinde. Formen des jüdischen Gemeindelebens. Der Schtadlan. Der absolutistische Staat und die jüdische Gemeinde. Autoritat und Macht des Schtadlans. Mittler zwischen Regierung und Gemeinden. Berend Levi und die Organisation der preußischen Juden im Westen. Autokratie der Hofjuden. Jost und Esther Liebmann und die Berliner Gemeinde. Drach und Kann in Frankfurt. Der Widerstand der Gemeinden gegen die Hofjuden. Seine Ursachen. Die soziale Struktur der Gemeinden. Schichtung und Gruppen. Kontroversen zwischen Hofjuden. Berend Levi und Elias Gumperts. Die Familie Model und Elkan Fraenckel. Versuche der Hofjuden, die jüdische Selbsrverwaltung zu erhalten.
Ihre Bestrebungen, die politische, wirschaftliche und soziale Lage der Juden zu verbessern.
Der Prozeß Eisenmenger und Samson Wertheimer. Die Ausweisung der Juden aus Wien und Manuel Teixeira. Wolf Wertheimer und die Vertreibung der Juden aus Prag.
VIII. Der Gemeindegründer und Mäzen 192
Die Entstehung neuer stadtischer Gemeinden. Die Griindung der Dresdner Gemeinde
durch Berend Lehmann. Die Kasseler Gemeinde und Abraham David. Die Bedeutung
Leffmann Behrens' und Michael Davids fur Hannover. Die Griindung der Bayreuther,
Schweriner, Munchner, Stuttgarter und Ludwigsburger Gemeinden. Die osterreichischen
Hofjuden und die Wiener Gemeinde. Halle und Minden. Die Entstehung der Gemeinden
von Konigsberg und Breslau. Die Mazene. Synagogenbauten und Talmudhochschulen.
Subvention der Studierenden. Berend Lehmann und die Neuausgabe des Talmuds. Die hebraische Druckerei des Moses Benjamin Wulff.
IX. Die Personlichkeit des Hofjuden 210
Die jüdische Elite. Ihr Lebensstil. Bau von Häusern. Luxus und Pracht. Religiöse Feierlichkeiten und Familienfeste. Die dualistische Existenz. Das Zeitalter der Aufklarung und die
Juden. Die Epoche des Barock und die Juden. Charakter von Jud Süß Das religiose Empfinden der Hofjuden. Ober die Unmöglichkeit einer Synthese von Judentum und Zeitgeist.
Die geistige und moralische Welt der Hofjuden. Talmud und Kabbala. Spannungen und
Widerspriiche.
X. Schicksale 233
Tyche. Die Wandelbarkeit des Gliicks. Das Schicksal der österreichischen Hofjuden. Der Untergang von Ruben Hinrichsen, Aron Beer und Moses Kann. Die Prozesse des Moses Benjamin Wulff. Folter und Gefangenschaft der Enkel von Leffmann Behrens. Das tragische Geschick Berend Lehmanns und seiner Sohne. Das Ende des Ruben Elias Gumperts.
Der Sturz des Elkan Fraenckel. Die Hinrichtung von Jud Süß Der Hofjude als Sinnbild
wirtschaftlichen Wandels.
MARINA SASSENBERG
Selma Stern und The Court Jew.
Bemerkungen zur deutschen Erstveröffentlichung 251
Dank 261
Editorische Notiz 262
Abkiirzungen 264
Auswahlbibliographie 265
Personenverzeichnis 274
Ortsverzeichnis 282