EDITORIAL 09/2022 POST-IMPERIALISMUS IM 21. JAHRHUNDERT VON CONSTANTIN WEINSTABL UND ALESSANDRO BARBERI / 24. Oktober 2022 Alessandro Barberi Alessandro Barberi, Constantin Weinstabl
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EDITORIAL: Mit dem Aufkommen des Kapitalismus am Beginn der Neuzeit entwickelten sich mit Christoph Columbus und den Entdeckungsreisen Amerigo Vespuccis, der den zwei „Amerikas“ ihren Namen gab, auch die Voraussetzungen des Kolonialismus und Imperialismus, deren brutale Auswirkungen bis ins 21. Jahrhundert reichen. Mit der Konstitution des Antikolonialismus – denken wir etwa an den Klassiker Die Verdammten dieser Erde (1961) von Frantz Fanon – beginnen dann (um es in aller Kürze zusammenzufassen) nach jahrhundertelanger Ausbeutung und Versklavung deterritorialisierende Befreiungsbewegungen, die auf breiter Ebene zur (formellen) Unabhängigkeit der „Kolonisierten“ führen und auf einer bestimmten Ebene das klassische Zeitalter des Imperialismus, wie Eric Hobsbawm es eindringlich beschrieben hat, beendeten.
Dennoch stellt sich etwa angesichts der imperialen (und atomaren) Politik vieler Länder dringlich die Frage, wie noch im 21. Jahrhundert – das wir als ein Zeitalter des Post-Imperialismus begreifen können – Kolonisierungen und imperiale Abhängigkeiten fortdauern bzw. wieder hergestellt werden. Auch angesichts der virulenten Diskussionen zum sog. „Post-Kolonialismus“ oder in Erinnerung an Michael Hardts und Toni Negris Empire (2000) stellt eine Analyse aktueller „imperialer Strategien“ einen wichtigen Ausgangspunkt für eine progressive Politik dar, die den weltweiten Zusammenhang der sog. Globalisierung im Blick behalten muss, um die devastierenden Auswirkungen des Kapitalismus diskutabel zu machen. Deshalb hat sich die Redaktion der ZUKUNFT entschlossen, dem Thema Post-Imperialismus eine eigene Ausgabe zu widmen, die wir unseren Leser*innen hiermit vorlegen können.
Denn ganz im genannten Sinne liefert der einleitende Beitrag von Flora Felix einen Überblick über die Entwicklung der verschiedenen Besatzungen in der Westsahara und deren wirtschaftliche Ursprünge seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dabei wird insbesondere auf die Rolle Marokkos und der UNO eingegangen, um die Frage nach gegenwärtigen Formen imperialer Machtausübung zu beantworten. In diesem Zusammenhang wird die Unabhängigkeitsbewegung (in) der Westsahara, insbesondere die linksgerichtete Frente Polisario, beleuchtet, um ein abgerundetes Bild der ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnisse in der Region zu ermöglichen, die damit zu einem eindringlichen Beispiel des Post-Imperialismus wird. Dabei wird deutlich, dass nicht nur Marokko, sondern auch zahlreiche andere Staaten wichtige Player*innen im Westsahara-Konflikt sind und ihren Interessen folgend auf internationaler Ebene dem Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis entgegenwirken.
Constantin Weinstabl diskutiert dann in seinem Beitrag die (neo)imperialistischen Politiken des 21. Jahrhunderts auf allgemeiner Ebene und thematisiert ihre gesellschaftlichen sowie staatlichen Implikationen unter Miteinbeziehung der Konzepte des Heroismus bzw. Postheroismus. Besonderes Augenmerk wird auf die unterschiedlichen Verfasstheiten der Akteur*innen im aktuellen Ukrainekonflikt gelegt. Schlussendlich findet eine Annäherung an die Frage statt, wie westliche Gesellschaften und Staaten unter dem derzeitigen Anspruch der Umsetzung ihrer liberalen, demokratischen und rechtsstaatlichen Werte auf diese derzeitigen sowie mögliche zukünftige Herausforderungen reagieren (können). Dabei fordert Weinstabl in einem Zeitalter zunehmender Multipolarisierung globaler politischer und wirtschaftlicher Beziehungen, dass wir die Verantwortung für unser (lokales und globales) Handeln tragen und seine politischen Implikationen und Konsequenzen bedenken.
Auch der Beitrag von Raphael Spötta geht davon aus, dass Imperialismus und Kolonialismus seit Jahrhunderten fester Bestandteil europäischer Außenpolitik waren. Seit den 1960er-Jahren wird diese Form der Außenpolitik nicht mehr offen betrieben. Doch in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nehmen europäische Staaten immer stärker informellen Einfluss auf die ehemaligen „Kolonien“, was buchstäblich im Sinne des Post-Imperialismus begriffen werden kann. Dabei wurde der klassische Imperialismus durch Interessensdurchsetzung und Großmachtpolitik ersetzt, wie wir angesichts des Krieges in der Ukraine nur zu deutlich vor Augen haben. So lässt sich Putins Politik deutlich im Sinne des Post-Imperialismus verstehen, der zutiefst mit militärischer Gewalt in Zusammenhang steht. Die Formen derartiger Politik sind in verschiedenen Fällen durchaus unterschiedlich, doch geht es im Kontext des Post-Imperialismus immer um die Sicherung der eigenen (auch „nationalen“) Interessen.
Der darauffolgende Artikel von Leo Xavier Gabriel erläutert angesichts unseres Schwerpunktthemas den Begriff des „Ökologischen Imperialismus“, um das Verhältnis von Kapitalismus und Naturausbeutung in den Blick zu nehmen. Dafür geht der Autor auf den historischen Begriff des ecological imperialism von Alfred Crosby (1986) ein und fasst die Kernaussagen seines Werkes zusammen, um Argumente für die Plausibilität des Begriffs Post-Imperialismus beizusteuern. Hierbei erweist sich das Konzept von Crosby insbesondere für die aktuelle wechselseitige Beziehung zwischen Ökologie und Imperialismus als unzureichend. Der Artikel versucht deshalb anhand von drei Facetten eine prägnante Darstellung der Relation von Ökologie und Imperialismus im 21. Jahrhundert aufzuzeigen: Dabei geht es erstens um eine Kritik des Globalen Südens an internationalen Umweltregulationen, zweitens um Subjektivierungsformen und Interpretationen des Begriffs „Natur“ sowie drittens um den Gegensatz von Nachhaltigkeit und Geopolitik. Damit wird insgesamt eine Redefinition des Konzepts „Ökologischer Imperialismus“ im Kontext der aktuellen geopolitischen Dynamiken und globaler Nord-Süd-Beziehungen vorgeschlagen.
Auch die Literaturwissenschaftlerin Marie-Theres Stampf analysiert zum Ende unserer Ausgabe hin die Linien des Post-Imperialismus im 21. Jahrhundert, wenn sie mit ihrem Review-Essay die einflussreiche Studie Prisoners of Geography. Ten Maps That Tell You Everyhing You Need to Know About Global Politics (2015) des britischen Journalisten und Außenpolitik-Experten Tim Marshall vorstellt. Marshall zeigt dabei – durchaus im Sinne des großen Historikers Fernand Braudel –, dass die geografischen Rahmenbedingungen einer Gesellschaft maßgeblich für ihre sozialen, ökonomischen, kulturellen und ideellen Strukturen sind, weil sie das menschliche Handeln stark rahmen und mitbestimmen. Dies gilt im heutigen globalen Zusammenhang z. B. für die USA oder für China, deren Politiken somit im Sinne des Post-Imperialismus interpretiert werden können. So lassen sich im faszinierenden Buch von Marshall auch für aktuelle neoimperialistische Entwicklungen relevante Informationen und Denkanstöße finden, welche die diesbezüglichen Diskussionen in ZUKUNFT bereichern können.
Auch dankt die Redaktion der ZUKUNFT dem Linzer Literaten, Cartoonisten und Bildermacher Hermann Haslin, der uns für diese Ausgabe freimütig seine Werke zur Verfügung gestellt hat, um unsere Bildstrecke zu bespielen. Dabei sind im Sinne unserer Imperialismusdiskussion seine PosterPoems und Cartoons pazifistische Diagnosen „imperialer“ Kriegsführung, die uns gerade angesichts der Ukrainekrise nachdenklich stimmen sollen, um uns – im Sinne der Friedenstaube der UNO – auf den Weg zum ewigen Frieden zu bringen. Nähere Informationen zum Künstler und seinen Arbeiten finden sich ab Seite 42 unserer Ausgabe, wo wir seine Randnotizen zur Bildstrecke präsentieren. So lässt sich diese Ausgabe zu Post-Imperialismus im 21. Jahrhundert mithin in einer rein rhetorischen Frage bündeln: Krieg und (oder?) Frieden … ?
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