Hans Kelsen (* 11. Oktober 1881 in Prag im damaligen Österreich-Ungarn; † 19. April 1973 in Orinda bei Berkeley, USA) gilt als einer der bedeutendsten Rechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Er erbrachte insbesondere im Staatsrecht, im Völkerrecht sowie als Rechtstheoretiker herausragende Beiträge. Er zählte gemeinsam mit Georg Jellinek und dem Ungarn Félix Somló zur Gruppe der österreichischen Rechtspositivisten, deren Denken er mit seinem Hauptwerk, der Reinen Rechtslehre, maßgeblich beeinflusste. Kelsen gilt als Architekt der österreichischen Bundesverfassung von 1920, die großteils bis heute in Kraft steht, und wird neben H. L. A. Hart als der einflussreichste Vertreter des Rechtspositivismus im 20. Jahrhundert angesehen.
Nach Ausrufung des am 30. Oktober 1918 gegründeten Staates Deutschösterreich als Republik am 12. November 1918 wurde Kelsen vom sozialdemokratischen Staatskanzler Karl Renner immer wieder als Experte für Verfassungsfragen herangezogen. Im März 1919 wurde er mit der Ausarbeitung der Verfassung des neuen Staates beauftragt. Das von der Konstituierenden Nationalversammlung beschlossene Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920 ist zwar nicht, wie es oft heißt, von ihm allein verfasst, aber von ihm maßgeblich mitgestaltet worden. Das so genannte B-VG (der Bindestrich grenzt es von auf Grund der Verfassung erlassenen Bundesverfassungsgesetzen ab) gilt in der Fassung von 1929 (Stärkung der Rechte des Bundespräsidenten, Neugestaltung des Verfassungsgerichtshofes) mit den sich wegen des EU-Beitritts 1995 ergeben habenden Modifikationen bis heute.
Rechtstheorie
Hans Kelsen wurde von Horst Dreier als der "Jurist des 20. Jahrhunderts" bezeichnet. Tatsächlich war sein Streben nach einer formalen Analyse des Rechts prägend für den deutschsprachigen Raum. Dabei vertrat Kelsen einen rein formalen Standpunkt, den er bereits in "Hauptprobleme der Staatsrechtslehre" herausarbeitete: In Abkehr von Georg Jellinek begriff er den Staat erstmals nicht mehr anhand der soziologisch tatsächlichen Kategorien "Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt". Kelsen sah den Staat vielmehr als die Gesamtheit von rechtlichen Sollenssätzen. Daher ist Hauptmerkmal des Staates in Anlehnung an Kant das Vorhandensein einer objektiven Rechtsordnung.
Die einzelnen Rechtsnormen werden in ihrer Entstehung durch eine in der von Adolf Merkl entwickelten Normenpyramide höherstehende Rechtsnorm bedingt, und jede Rechtsnorm bedingt ihrerseits wiederum das Entstehen einer im Rang niedrigeren Norm (Stufenbau der Rechtsordnung). Dadurch gelangt man allerdings in einen unendlichen Regress, da über jeder Norm eine höhere stehen müsste. Um dieses Problem zu lösen, führte Kelsen die so genannte hypothetische Grundnorm ein.
Die hypothetische Grundnorm dient als transzendentallogische Voraussetzung, um die Geschlossenheit eines Rechtssystems zu gewährleisten. Eine Norm gehöre nämlich nur dann einer Rechtsordnung an, wenn sie sich auf diese Grundnorm zurückführen lasse. Ursprünglich meinte Kelsen, dass die Grundnorm eine Hypothese sei, später ging er dazu über, in ihr eine Fiktion zu sehen.
Kelsen legte größten Wert auf die Unterscheidung der Kategorien Sollen und Sein (siehe Humes Gesetz). Allein auf Grund der Tatsache, dass etwas ist, kann nicht darauf geschlossen werden, dass es auch so sein soll. Es handelt sich daher um verschiedene Denkkategorien im Sinne Immanuel Kants. Normen gehören dem Bereich des Sollens an. Ihre spezifische Existenz wird Geltung genannt. Eine Norm kann ihre Geltung nur von einer anderen - höheren - Norm herleiten, niemals aus einer bloßen Tatsache (etwa Macht).
Gegenstand der Rechtswissenschaft sind nach Kelsen ausschließlich Rechtsnormen. Natürlich gibt es auch andere Normensysteme wie Sitte und Moral; Letztere ist aber Gegenstand der Ethik, die sich eben mit Normen der Moral befasst. Der Rechtswissenschaftler hat in seiner Darstellung des geltenden Rechts nicht zu prüfen, ob eine Norm nach bestimmten Moralvorstellungen gerecht oder ungerecht erscheint. Dies wäre eine unzuverlässige Vermengung von verschiedenen Normensystemen und widerspräche der Forderung nach Reinheit der Rechtslehre.
Kennzeichnend für Kelsens System ist, dass er sich aus methodologischen Gründen gegen das "Naturrecht" wendet. Als "Naturrecht" wird ein System von Rechtsgrundsätzen bezeichnet, in dem die gleichbleibende Natur des Menschen als vernünftiges Wesen aus der Natur der Dinge abgeleitet wird, wobei der Ursprung wie auch die Geltung vom menschlichen Handeln unabhängig sind, so dass diese ein über der positiven Rechtsordnung eigenständiges Dasein führen können. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was die hypothetische Grundnorm anderes als Naturrecht bzw. eine Norm aus der Natur der Sache sein soll.
Kelsen räumte aber auch ein, dass bei der Rechtsgestaltung und Rechtserzeugung ethische und soziologische Fragen eine Rolle spielen.
Kelsen wird mit Recht als der Begründer der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit angesehen. Er gilt zwar weithin als der Schöpfer der österreichischen Bundesverfassung von 1920, mitgearbeitet hat er allerdings nur an dem Teilbereich der Verfassungsgerichtsbarkeit. Grundgedanke war, die legislatorischen Akte (Rechtsschöpfungsakte) letztinstanzlich durch ein aus der Fachgerichtsbarkeit ausgegliedertes Gericht kontrollieren zu lassen. Dadurch wird eine einheitliche Rechtsanwendung ermöglicht und einer rechtlichen Zersplitterung entgegengewirkt. Dass Kelsens Theorie sich nicht vollkommen in der Praxis durchsetzte, zeigte der Streit der Fachgerichtsbarkeit mit dem österreichischen Verfassungsgerichtshof, an dem auch Kelsen Richter war, über die Auslegung der Voraussetzungen einer Ehescheidung. Während Kelsen und der Verfassungsgerichtshof davon überzeugt waren, eine wirksame Ehescheidung liege schon bei einer staatlichen Scheidungsentscheidung vor, beharrten die Fachgerichte auf dem Standpunkt, hierfür bedürfe es zwingend eines kirchlichen Aktes. Die Folge war, dass Kelsen sein Richteramt niederlegte und Wien verließ. In Köln traf Kelsen auf Carl Schmitt und antwortete auf dessen Staatsansicht mit der Schrift "Wer soll der Hüter der Verfassung sein". Schmitt propagierte das System der absoluten Macht mit der These "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet", Kelsen konnte dem das Prinzip der Verfassungsgerichtsbarkeit entgegenstellen. Im Zuge der Gleichschaltung unter der NSDAP wurde Kelsen eindringlichst aufgefordert, die Universität zu Köln zu verlassen. Eine Petition, unterzeichnet von der gesamten Kölner Rechtslehrerschaft mit Ausnahme von Carl Schmitt, blieb erfolglos.