Emmanuel Faye versucht so polemisch wie quellennah die Nähe der deutschen Philosophie der 30er Jahre zum Nationalsozialismus nachzuweisen. Er beeindruckt durch die Materialfülle, mit der er belegt, dass die Grundlagen Martin Heideggers Denken in rassischem, völkischem und antisemitischem Gedankengut zu finden sind.
»Heidegger und die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie« gehört zu den meist umstrittenen Büchern der letzten Jahre. Die deutsche Ausgabe hat Emmanuel Faye durchgesehen und mit einem neuen Nachwort versehen. Darin geht er auf die seit Erscheinen des Buchs in Frankreich nicht endenden Vorwürfe ein. Der deutsche Leser hat nun die Möglichkeit, eine Debatte kritisch zu beurteilen, deren Ende nicht absehbar ist, denn »zwei Tatsachen über Martin Heidegger sind so unleugbar, wie sie den Umgang mit seinem Werk kompliziert machen: Er ist einer der einflussreichsten Philosophen des 20. Jahrhunderts, und er war ein Nazi. An dieser Spannung entzünden sich bis heute immer neue Diskussionen um das Werk des deutschen Denkers.« DIE ZEIT --- Emmanuel Faye kritisierte in seinem 2005 erschienenen Buch Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie[885] die Heidegger-Lesarten von Ernst Nolte, Jean Beaufret, François Fédier und anderen als Geschichtsrevisionismus, mit denen sie die Gräueltaten der Nazis relativiert hätten. Er erkennt unter Berufung auf geistige Nachbarschaften (Erik Wolf, Alfred Baeumler, Carl Schmitt) sowie auf Seminar-Nachschriften der frühen 1930er Jahre eine kontinuierliche Bejahung des Nationalsozialismus. Heidegger solle nicht mehr philosophisch, sondern ideologiegeschichtlich als Vertreter des europäischen faschistischen Denkens interpretiert werden: „Es liegt uns fern“, schreibt Faye, „Heideggers Lehrstunde einen ausführlichen Kommentar zu widmen und so dem Schein des Akademischen zu erliegen, den Heidegger seinen Ausführungen zu verleihen sucht, um einen radikal hitlerischen Bodensatz besser zu verpacken.“ So nterpretiert Faye ein vierteiliges Pfeilschema, mit dem Heidegger ein Gedicht Hölderlins erläutert, als verkappte Swastika-Kreuz. Er vertritt auch die Hypothese, dass Heidegger eine „gewisse Rolle“ in einem „verborgenen Netz“ von Personen gespielt habe, die für die Konzeption von Reden und Artikeln Hitlers als Ghostwriter zuständig waren. Heideggers Werk gehöre folglich nicht in die philosophischen Fachbibliotheken: Es habe eher seinen Platz in den Beständen, die der Geschichte des Nazismus und Hitlerismus gewidmet seien. Faye kritisierte deshalb, dass 2006 in Frankreich Textauszüge von Heidegger bei der schriftlichen Prüfung für die Agrégation, das staatliche Wettbewerbsverfahren fürs höhere Lehramt, vorgelegt wurden. Damit bekämpft er vor allem den Einfluss, den Heideggers Anti-Cartesianismus und Amoralismus seit 1945 auf die Philosophie in Frankreich ausübt: „Diese Position hat einen so großen Einfluss auf die Mentalitäten ausgeübt, dass man heute, selbst von Menschen mit unnachgiebiger Haltung gegenüber dem Nationalsozialimus, häufig zu hören bekommt, dass es nichts bringe zu ‚moralisieren‘."
Faye berief sich unter anderem auf noch unveröffentlichte, nur ihm vorliegende Materialien und Schriften Heideggers. Kritiker warfen ihm fehlende Belegbarkeit, ja sogar bewusste Verstellung der Aussagen Heideggers vor; andere, darunter François Fédier, sprachen von „polemischer Verschleierung“, Unwahrheit und Unwissenschaftlichkeit von Fayes Untersuchung. Der Verlag Gallimard zog das Publikationsprojekt Fédiers zurück, nachdem Faye für die Zeitungsredaktion eine vorauseilende Warnung verfaßt hatte, mit dem Inhalt, das angekündigte Buch sei ein Beispiel von „erschreckendem Negationismus.“ Das Buch durfte in einem anderen Verlag erscheinen. Fédier meint darin, Faye verfahre nach der „guilt by association“-Methode. Der Begriff „Prägung“ komme z. B. sowohl bei Heidegger als bei den Rassentheoretikern Ludwig Ferdinand Clauß und Erich Rothacker vor. Aber auch bei vielen anderen, beispielsweise bei Viktor von Weizsäcker, betont Fédier, der Faye unter anderem in einer TV-Diskussion im Februar 2007 entgegentrat. Die Philosophen Jacques Bouveresse, Georges-Arthur Goldschmidt, Jean Bollack, Michel Onfray, die Historiker Jean-Pierre Vernant, Pierre Vidal-Naquet, Paul Veyne und Serge Klarsfeld nahmen Faye gegen seine Kritiker in Schutz. In Deutschland wurde das Buch als positiv von Kurt Flasch betrachtet: Es handele sich um „eine gescheite und durchdachte Herausforderung“, indem es „Heideggerianer, vom hohen Ross herunterzukommen und sich erneut der Textarbeit zu widmen“ zwinge. Dieter Thomä, Daniel Morat, Henning Ottmann und Willem van Reijen griffen hingegen dessen „Abstrusitäten“ und Mängel an. Faye verwechsle z. B. den jüdischen Philosophen Richard Kroner mit dem Kröner-Verlag, indem er schreibt, Heidegger hätte 1934 die Textausgabe der Hegelschen Rechtsphilosophie von „Richard Kröner“ kritisiert, oder ersetzt in seiner Übersetzung des Ausdrucks „die Notwendigkeit der Führer“ den Plural durch einen Singular („la nécessité du Führer“). In den Vereinigten Staaten äußerten 2015 Krzysztof Ziarek und Thomas Sheehan: „Emmanuel Faye sei entweder unfähig zu verstehen, was er liest, oder er missverstehe absichtlich.“ Faye habe sogar einige Texte Heideggers „wiedergeschrieben“. François Rastier erwiderte, es handele sich um eine Verleumdungskampagne gegen Faye, die nur auf „Haarspaltereien“ über die Übersetzung von Wörtern beruhe. Die schon damals veröffentlichten „Schwarzen Hefte“ liefern einen zureichenden Beleg für Fayes These.
Verfasser*innenangabe:
Emmanuel Faye. Aus dem Franz. von Tim Trzaskalik
Jahr:
2009
Verlag:
Berlin, Matthes & Seitz
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Systematik:
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PI.BF
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ISBN:
978-3-88221-025-5
2. ISBN:
3-88221-025-7
Beschreibung:
1. Aufl., 557 S.
Originaltitel:
Heidegger <dt.>
Fußnote:
Literaturverz. S. 525 - 549
Mediengruppe:
Buch