Michel Henry (* 10. Januar 1922 in Haiphong, Vietnam; † 3. Juli 2002 in Albi, Frankreich) war ein französischer Philosoph und Schriftsteller. Michel Henry verbrachte seine frühe Kindheit in Französisch-Indochina, also in französischem Kolonialgebiet. 1929, im Alter von 7 Jahren, kam er mit seiner Mutter (sein Vater war kurz nach seiner Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen) nach Frankreich. Seine philosophische Ausbildung erhielt er in Paris. Im Zweiten Weltkrieg war er an der Résistance beteiligt. Nach dem Krieg gehörte er zur Gruppe von französischen Philosophen, die Martin Heidegger im Schwarzwald einen Besuch abstattete. Von 1960 bis 1982 lehrte Henry an der Universität Montpellier. Neben seinem philosophischen Werk veröffentlichte Henry außerdem vier Romane, die ebenso wie sein frühes philosophisches Hauptwerk (L'essence de la manifestation, 1963) bis dato - abgesehen von jenem Teil, der sich mit dem Denken von Meister Eckhart befasst - nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Michel Henry ist Begründer einer Phänomenologie des Lebens, die gelegentlich auch als "(radikale) Lebensphänomenologie" oder "materiale Phänomenologie des Lebens" bezeichnet wird.
Seinen phänomenologischen Ansatz entwickelt Henry anhand einer Kritik an der klassischen Phänomenologie Edmund Husserls: Die einseitige Ausrichtung auf die Intentionalität, das heißt auf die Beziehung zwischen dem Bewusstseinsakt des Erscheinens und dem darin erscheinenden („intentionalen“) Gegenstand, habe dazu geführt, die ursprüngliche Erscheinungsweise („Phänomenalisierung“) - und damit zugleich das Urphänomen des Lebens - zu verfehlen. Die Kritik an Husserl besteht demgemäß darin, dass die klassische Phänomenologie mit ihrer unbefragten Voraussetzung, die Intentionalität des Bewusstseins für den ursprünglichen Ort des Erscheinens zu halten, gerade die eigentliche Wirklichkeit des Erscheinens vor aller Intentionalität unberücksichtigt lässt und damit ihre ontologische Aufgabe, die Wirklichkeit des Erscheinens aufzuklären, preisgibt. Dieser „Weltphänomenalität“, in der jedes Erscheinende zu einem bloß intentional Gesehenen nivelliert und darin seiner Wirklichkeit beraubt wird, stellt Henry die ursprüngliche „Lebensphänomenalität“ entgegen: Das Erscheinen des Lebens ist nicht über einen intentionalen Bezug vermittelt, sondern geschieht unmittelbar und immanent. Die ursprüngliche Phänomenalisierung besteht demnach nicht darin, dass das Leben sich auf gegenständliche Weise einem Bewusstsein gibt, sondern dass das Leben sich unmittelbar sich selbst gibt, ohne dass das „Licht“ einer bewussten Reflexion dazwischentritt.
Der phänomenologische Lebensbegriff Henrys darf dabei nicht biologisch missverstanden werden: Mit „Leben“ ist nicht etwa die belebte Natur als der Gegenstand der Biologie gemeint, sondern ein vor aller wissenschaftlichen und alltäglichen Erfahrung der Gegenständlichkeit liegendes unmittelbares Phänomen, das der Mensch, der diese philosophische Überlegung anstellt, zuerst an sich selbst erfährt, und zwar in der Art und Weise, wie er sich selbst erscheint: Das ursprüngliche Sich-Erscheinen des Menschen liegt nicht in einer reflexiven Rückwendung auf mich (indem ich mich zum Gegenstand meiner selbst mache), sondern vielmehr in einem unmittelbaren Mir-Selbst-Gegeben-sein, also in einem Erscheinen, das nicht in der Macht des Subjekts liegt. Es ist diese Instanz des ursprünglichen Erscheinens, die Henry als „Leben“ bezeichnet.
Michel Henry hat die skizzierte Grundeinsicht, die sein gesamtes philosophisches, essayistisches und literarisches Werk durchzieht, in ganz unterschiedlicher Gestalt konkretisiert und auf verschiedenste Themen und Probleme angewandt, unter anderem auf Fragen der Kultur, der Religion und der abstrakten Kunst.
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Verfasser*innenangabe:
Rolf Kühn / Stefan Nowotny (Hg.)
Jahr:
2002
Verlag:
Freiburg, Br. ; München, Alber
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Systematik:
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ISBN:
3-495-48061-7
Beschreibung:
Orig.-Ausg., 302 S.
Fußnote:
Literaturverz. und Bibliogr. S. 265 - 292
Mediengruppe:
Buch