VorwortEinleitungUmwelt und Heimat (Edeltraud Kueting)· Landschafts- und Naturschutz (Gert Gröning / Joachim Wolschke-Bulmahn)· Tierschutz und Antivivisektion (Miriam Zerbel)· Heimatschutz (Edeltraud Klueting)· Denkmalpflege und Heimatbaukunst (Sigrid Hofer)Lebensreform / Selbstreform (Wolfgang R. Krabbe)· Naturheilbewegung (Wolfgang R. Krabbe)· Kleidungsreform (Karen Ellwanger / Elisabeth Meyer-Renschhausen)· Freikörperkultur (Rolf Koerber)· Ernährungsreform (Judith Baumgartner)· Vegetarismus (Judith Baumgartner)· Antialkoholbewegung (Judith Baumgartner)Gemeinschaft und Gesellschaft (Diethart Kerbs / Ulrich Linse)· Exkurs: »Gemeinschaft« und »Gesellschaft« von Ferdinand Tönnies bis Theodor Geiger (Ulrich Linse)· Frauenbewegung (Elisabeth Meyer-Renschhausen)· Jugendbewegung (Winfried Mogge)· Rassenhygiene, Sozialhygiene, Eugenik (Jürgen Reulecke)· Sexualreform und Sexualberatung (Ulrich Linse)· Siedlungs- und Landkommunebewegung (Anne Feuchter-Schawelka)Leben und Arbeiten / Wirtschaften und Wohnen (Reinhard Farkas)· Genossenschaften (Michael Prinz)· Bodenreform (Elisabeth Meyer-Renschhausen / Hartwig Berger)· Freiland - Freigeld (Werner Onken)· Gartenstadtbewegung (Kristiana Hartmann)· Alternative Landwirtschaft / Biologischer Landbau (Reinhard Farkas)Erziehung und Bildung (Diethart Kerbs)· Reformpädagogik (Bruno Schonig)· Sozialpädagogische Bewegung (Norbert Schwarte)· Arbeitslagerbewegung (Peter Dudek)· Volksbildungs- und Volkshochschulbewegung (Bettina Irina Reimers)· Kunsterziehungsbewegung (Diethart Kerbs)· Jugendmusikbewegung (Dorothea Kolland)· Landerziehungsheimbewegung (Ulrich Schwerdt)· Freie Waldorfschulen (Heiner Ullrich)Kunst und Kultur (Diethart Kerbs)· Kunstwart und Dürerbund (Rüdiger vom Bruch)· Theaterreform und Laienspiel (Andreas Kaufmann)· Ausdruckstanz (Gabriele Brandstetter)· Kunstgewerbebewegung (Angelika Thiekötter)· Heimatliteratur und Heimatkunstbewegung (Kay Dohnke)Religiosität und Spiritualität (Justus H. Ulbricht)· Deutschchristliche und deutschgläubige Gruppierungen (Justus H. Ulbricht)· »Importierte« Religionen: das Beispiel Buddhismus (Martin Baumann)· Religiöse Sozialisten (Arnold Pfeiffer)· Freireligiöse und Feuerbestatter (Jochen-Christoph Kaiser)· Jüdische Renaissance (Inka Bertz)· Erneuerungsbewegungen im römischen Katholizismus (Michael Klöcker)· Erneuerungsbewegungen im Protestantismus (Jochen-Christoph Kaiser)· Anthroposophie (Norbert Schwarte)Namen- und OrtsregisterVerzeichnis der Autorinnen und AutorenBildquellennachweisEs wird heute viel von den »neuen sozialen Bewegungen« gesprochen. Dabei wird oft übersehen, dass etliche dieser angeblich so neuen Bewegungen Wurzeln oder deutliche Parallelen in der Vergangenheit haben. Vieles von dem, was heute erprobt wird, ist schon vor gut hundert Jahren diskutiert und ausprobiert worden. Weil aber viele Dokumente verlorengegangen, in Privatbesitz oder in wenig bekannten Spezialbibliotheken versteckt sind, ist die heutige Debatte durch eine eigentümliche Geschichtslosigkeit gekennzeichnet.Diesem Mangel begegnet das Handbuch der deutschen Reformbewegungen. Gleichzeitig schließt es eine empfindliche Lücke in der ansonsten so stattlichen Reihe historischer Handbücher. Es umfasst in sieben Hauptgruppen und über 40 Einzelbeiträgen alle wesentlichen Reformbewegungen und spiegelt ein spezifisch deutsches und bürgerliches Thema, vor allem die besonderen Nöte und Ängste, Hoffnungen und Utopien bürgerlicher Zwischenschichten.Die zur Zeit offenbar unangefochten herrschende liberalistische Wirtschaftsordnung mit all ihren Widersprüchen wird ohne Zweifel auch in Zukunft fortfahren, die Erde auszubeuten, die Umwelt zu zerstören, die Lebensvorgänge zu kommerzialisieren und die Träume zu besetzen. Deshalb wird dem Bedürfnis, nach Alternativen zu suchen, eine immer wichtigere Rolle zukommen. Damit solche Suche nicht geschichtsblind bleibe, ist dieses Buch entstanden.Handbuch, Reformismus, Umweltbewegung, Alternative Bewegung, Alternative Lebensform, Alternative Lebensform, Soziale Bewegung, Frauenbewegung, Religiöse Bewegung Wo das fin de siècle und überhaupt der Untergang der Kultur drohen, scheinen umfassende Rettungsmassnahmen gefordert. Diese Aufgabe haben sich in den Jahren um 1900 viele Reformer bürgerlicher Herkunft aufgebürdet. Über die titanischen Versuche, die Welt zu retten und den Menschen aus den Fesseln von Kultur und Technik zu erlösen, unterrichtet das «Handbuch der deutschen Reformbewegungen» in 52 Beiträgen. Die Herausgeber, Diethard Kerbs, Professor für Kunstpädagogik an der Berliner Hochschule der Künste, und Jürgen Reulecke, Professor für neuere und neueste Geschichte an der Universität Siegen (beide jugendbewegten Traditionen verbunden), legen damit einen gut lesbaren Überblick und ein für die weitere Forschung nützliches Arbeitsinstrument vor. – Der Umweltschutz, der in den letzten dreissig Jahren auf die politische Agenda kam, hat in jener Zeit, wie man im ersten Kapitel über «Umwelt und Heimat» erfährt, seine Wurzeln. Zum umfassenden Konzept des Landschaftschutzes gehörten auch, wie Sigrid Hofer dokumentiert, die Anfänge der Denkmalpflege und die «Heimatbaukunst». Doch schon hier zeigen sich die Ambivalenzen der gutgemeinten Reformversuche: Mit dem Sinn für Bautradition entstand die Feindschaft gegenüber dem «neuen Bauen»; «modernes» Traditionsbewusstsein und «antimoderne» Baupraxis reichten sich die Hand. In das Kapitel «Lebensreform/Selbstreform», in dem sich etwa die Naturheilbewegung, die Freikörperkultur oder der Vegetarismus eingeordnet finden, führt Wolfgang R. Krabbe ein und bringt das Anliegen dieser körperbezogenen Philanthropie auf den Punkt: Nicht Heilung, sondern Heil, nicht Rettung, sondern Erlösung sollte der Verzicht auf Kleidung, Fleisch oder Alkohol bringen. Diese Reform war zutiefst religiös motiviert (was man in den Beiträgen kaum mehr erfährt). Dass das 20. Jahrhundert zur Ära der Körpertherapien und des Bodybuilding oder zur Epoche der freien Sexualität werden konnte, verdankt es nicht unwesentlich diesen Ausbrechern aus der bürgerlichen Kleiderordnung. Die Rückseite der «Selbstreform» war Politikdistanz: Der «Platz an der Sonne», wie ihn der Schlachtruf des deutschen Kolonialismus forderte, wurde für die Nudisten zum Recht auf ein kleiderfreies Plätzchen in der Berliner Birkenheide. In Anbetracht des Imperialismus vieler europäischer Nationen hatte diese Selbstbezogenheit etwas «Eskapistisches», wie viele Autoren meinen. In zwei Kapiteln über Gesellschaftskonzeptionen – von der Frauen- und Jugendbewegung über das Genossenschaftswesen und «Freigeld»-Theorien bis zum alternativen Landbau – gewinnt man den Eindruck: Hier blieb kein Flecken unbeackert. Doch so instruktiv die meisten Beiträge auch sind, sie verdecken nicht, dass man in diesem Sammelband um das zentrale soziale Problem der Jahrhundertwende sich gleichsam herumgeschrieben hat. Die Arbeiter- und Armutsfrage kommt, abgesehen von wenigen Erwähnungen (etwa bei Winfried Mogge), nicht vor. Die Herausgeber reflektieren dieses Defizit, führen Platzmangel und die Grenzen des Machbaren an; und doch glaubt man nicht, dass bei 624 Seiten nicht noch Ausführungen zu den Interferenzen der bürgerlichen Reformbewegungen mit Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften Platz gefunden hätten. Dieses Manko reproduziert in der historiographischen Aufarbeitung die relative Politikferne der Protagonisten der Jahrhundertwende. Mit «Erziehung und Bildung» sowie «Kunst und Kultur» sind zwei Kapitel überschrieben, in denen vielleicht wie in keinem anderen Teil des Buches die Wirkungen der Reformbewegungen fassbar werden. Die Impulse der Reformpädagogik haben vielen Erstklässlern zensurenfreie Zeugnisse beschert, die Volkshochschulen sind ohne die «Landerziehungsheimbewegung» nicht zu denken, und das Tanztheater wäre ohne den Ausdruckstanz, wie ihn etwa Rudolf von Laban und Mary Wigman in Zürich und Ascona praktizierten, nicht entstanden. Einen wichtigen Abschluss bildet das von Justus H. Ulbricht kommentierte (letzte) Kapitel zu «Religiosität und Spiritualität» insofern, als die oft unterschätzte Rolle religiöser Reformimpulse adäquat gewürdigt wird. Dabei ist forschungspraktisch wegweisend, dass Religion nicht der Kirchen- oder Religionsgeschichte als Separatum zugewiesen, sondern in die allgemeine Kulturwissenschaft integriert wird. «Deutschchristliche» Gruppen und der «importierte Buddhismus» kommen hier ebenso zu Wort wie das Judentum und die grossen christlichen Konfessionen, wobei allerdings, stärker als sonst in diesem Buch, bedeutende Forschungsliteratur neben Weltanschauungslyrik im Wissenschaftsgewand steht. Dass es sich in der Sache um «Religiosität», mithin um institutionenferne Religion handle, wie die Kapitelüberschrift suggeriert, dementieren allerdings alle Artikel. Auch Religion ist hier durchgängig vereinsmässig organisiert; die «vagierende Religiosität» individualistischen Zuschnitts harrt einer Bearbeitung. Man könnte dieses informative und reich bebilderte Buch nun recht zufrieden schliessen, stiesse man nicht auf eine ärgerliche Lücke: Es gibt kein Sachregister, Gruppen lassen sich nur auf detektivischen Umwegen (etwa über das Personenregister) ermitteln: Dem Schatzhaus fehlt ein wichtiger Schlüssel. Was bleibt von den Reformbewegungen? Zur Katastrophe geriet ihnen die nationalsozialistische Herrschaft in Deutschland. Manche Reformer gingen in den Widerstand, andere wurden – widerstrebend oder ohne Gegenwehr – gleichgeschaltet, wieder andere führten sich als willfährige Brandstifter auf. Man kann es den Herausgebern nicht hoch genug anrechnen, dass sie die meisten Autorinnen und Autoren bewegen konnten, hier der Versuchung zu wehren, einen «blinden Fleck» zu lassen. Langfristig sind aber sowohl die positiven Folgen in den «weichen» Politikfeldern als auch das weitgehende Scheitern in machtpolitischen Fragen evident. Es bleiben «Anfragen» an die modernen Industriegesellschaften: Wie weit etwa darf der Verlust an Lebensqualität durch technischen Fortschritt oder die Entfremdung von der Natur durch die Naturwissenschaften reichen? – Von vielen «Lösungsangeboten» profitiert man allerdings nur mit einem aufmerksamen, nachgerade misstrauischen Blick auf die Ambivalenzen: Zur Befreiung der Taille aus dem Korsett kam auch die rassenhygienische Vereinnahmung der Nacktheit; und das Arbeitslager wurde sowohl zum Refugium der wechselseitigen Anerkennung widerstreitender Gruppen als auch zum Ort zwangsweiser Uniformierung. Freiheit und Zwang standen und stehen programmatisch bis heute beisammen: zwischen ökologischer Reform und Ökodiktatur. Zu den tagesaktuellen Folgen der reformbewegten Jahrhundertwende geben nur wenige Artikel Auskunft. Dabei fällt ins Auge, dass das geheime Zentrum der bürgerlichen Reformkräfte, die Jugendbewegung, an Glanz eingebüsst hat. Seit ins Bewusstsein gedrungen ist, dass die Senioren die Mehrheit der Gesellschaft bilden, ist neben die Apotheose des «Jugendstils» die Reflexion über das «Alterswerk» getreten. Und die ehedem hohe weltanschauliche Aufladung vieler Reformprojekte, auch dies ist deutlich, ist einem pragmatischen Verhalten gewichen: Fleischlose Tofu-Burger haben heute kaum mehr etwas mit der pantheistischen Liebe zur Natur zu tun. Dieser «Utilitarismus» schützt vor ideologischer Übersteigerung, zerstört aber zugleich die grosse Vision einer ganzheitlichen Gesellschaftsreform. Offenbar erleiden die Reformbewegungen der Jahrhundertwende ein für pluralistische Gesellschaften typisches Schicksal: Ihr Erfolg beseitigt die Anstössigkeit, der sie ihre Wirkungen – zunächst – verdanken. Helmut Zander -- Neue Zürcher Zeitung