Das Gedächtnis trügt. Erinnern und Vergessen sind grundlegende Prozesse menschlichen Lebens. Sie sind damit zugleich entscheidende, bisher aber kaum beachtete Faktoren für das Zustandekommen der Mehrzahl historischer Quellen. Johannes Fried konfrontiert deshalb die Ergebnisse der modernen Gedächtnis- und Hirnforschung mit ausgewählten Beispielen aus der Geschichte, um den Schleier der Erinnerung zu lüften. Sein heftig diskutierter Beitrag zu einer historischen Memorik liegt nun endlich auch in einer preisgünstigen Studienausgabe vor. (Verlagstext)
Inhaltsverzeichnis:
I. Vier Fälle 13
1.1 Einleitung: Wahrnehmung, Erinnerung, Wissen und
Wirklichkeit 13
1.2 Der erste Fall: Ein Präsidentenberater 22
1.3 Der zweite Fall: Zwei Physiker 25
1.4 Der dritte Fall: Ein Philosoph im kulturellen Leben .. . 32
1.5 Der vierte Fall: Ein Fürst 36
1.6 Konsequenzen: Irritation der Wirklichkeit durch
Erinnerung 46
1.7 Primäre und sekundäre Verformungsfaktoren des
Gedächtnisses 49
II. Das Schweigen der Forschung:
Die Mediävistik als Beispiel $j
III. Neurokulturelle Grundlagen
der Geschichtswissenschaft . 80
3.1 Gedächtnistypen 80
3.2 Vom Individuum zum Kollektiv: Kulturelle Transmission
des Wissens 83
3.3 Ethologie und kognitive Verhaltensforschung 86
3.4 Ein kurzer Blick in die Evolution des Gedächtnisses .. . 95
3.5 Experimentelle Gedächtnispsychologie 100
3.5.1 Wahrnehmung und Bewußtsein 100
3.5.2 Die Wirklichkeitsversuche William Sterns 104
3.5.3 Psychische Konditionierung der Erinnerungen 107
3.5.4 Vergessen 112
3.6 Einsichten durch Neurobiologie und Neuropsychologie . 116
3.6.1 Zur Vorgeschichte der Fragestellung 116
3.6.2 Neuronale Grundlagen des Gedächtnisses 118
3.6.3 Reiz- (Informations-)Verarbeitung des Hirns und
neuronale Netze 121
3.6.4 Die Arbeitsweise des Gedächtnisses 123
3.7 Sprache als Stabilisator der Erinnerung 128
3.8 Wirklichkeit und Sprache 132
io Inhalt
3.9 Gedächtnis als konstruktiver Prozeß 135
3.10 Die Wahrnehmung - ein Erinnerungsprozeß 140
3.11 Neurokulturelle Gedächtnisforschung 143
3.12 Ergebnisse und Folgerungen für die geschichtswissenschaftliche Praxis . ~. 146
IV. Zwischen Hirn und Geschichte:
Implantierte Erinnerungen 153
4.1 Scheinrealitäten in der Geschichte und im kulturellen
Gedächtnis 155
4.1.1 Venedigs Sieg über Friedrich Barbarossa 157
4.1.2 Karl der Große: Ein heiliger Kaiser? 166
4.2 Die schwierige Suche nach erinnerter Wirklichkeit . . . 169
V. Wie zuverlässig sind Erinnerungen?
Das Mittelalter als Untersuchungsfeld 173
5.1 Die Erinnerungsfähigkeit von Prozeßzeugen 175
5.1.1 Der Grenzstein von Marzano r . . . . 176
5.1.2 Ein Streit um das Val di Lago di Bolsena 178
5.1.3 Der Prozeß um die Grafschaft im Val Blenio 183
5.2 Die Erinnerungsfähigkeit von Verwandten 186
5.2.1 Dhuoda 186
5.2.2 Thietmar von Merseburg 188
5.2.3 Hermann der Lahme 190
5.2.4 Fulco von Anjou 191
5.2.5 Lambert von Watterlos 195
5.3 Die Irrwege der Erinnerung setzen der Erkenntnis
Grenzen 197
VI. Das Gedächtnis mündlicher Kulturen I:
Erfahrungen der Ethnologie 201
6.1 Unberechtigte geschichtswissenschaftliche Skepsis
gegenüber der Ethnologie 202
6.2 Ein Streit um Knochen: Die Mißdeutung des
Neandertalers 205
6.3 Überschreibungen in den Erinnerungen schriftloser
Kulturen 208
6.4 Interkulturelle Vergleiche 212
6.^ Strukturelle Amnesie 214
6.6 Traditionen werden erfunden 218
6.7 Stabilisatoren des Gedächtnisses 218
Inhalt 11
VII. Das Gedächtnis mündlicher Kulturen II:
Erfahrungen der Mediävistik 223
7.1 Die Spur der Gedächtnismodulation in historischen
Quellen 223
7.2 Die Entdeckung der Mündlichkeit 227
y.) Spurensuche im Reich der Mündlichkeit: Die «Germania»
des Tacitus 232
7.4 Das Gedächtnis zwischen Mündlichkeit und
Schriftlichkeit 237
7.4.1 «Lügenfeld»: Ritual statt Schrift 239
7.4.2 Königssalbung: Überschreibungen im kulturellen
Gedächtnis 242
7.4.3 Die Herkunft der Langobarden: Teleskopie in Aktion . . 244
7.4.4 «Chiavenna»: Ein inversives Implantat? 252
7.5 Wie weit reichen mündliche Traditionen in die
Vergangenheit zurück? 255
7.5.1 «Sagen» 255
7.5.2 Die Amaler-Genealogie als Prüfstein 259
7.5.3 Die Formbarkeit des Herkunftswissens im frühen
Mittelalter 267
7.5.3.1 Überlieferung 270
7.5.3.2 Verschriftung 274
7.5.3.3 Wiederholte Neuschöpfungen 277
7.5.3.4 Mutationen der Dietrich-«Sage»: Von der Schrift zur
Mündlichkeit 284
j.6 Das endlose Fließen mündlicher und schriftlicher
Überlieferung im Mittelalter 289
VIII. Stabilisierungsstrategien von Erinnerungskulturen
und deren Grenzen 292
8.1 Stabilisierung mündlicher Erinnerung durch die
Sprache 292
8.2 Grenzen sprachlicher Stabilisierung: Zum Beispiel
die irischen «filid» 293
8.3 Textstabile und textvariable Überlieferung 298
8.4 Autoritatives Gedächtnis 300
8.5 Kanonbildung 302
8.5.1 «Machet einen Zaun um das Gesetz»: Kanon, institutionalisierte Lehre und Gedächtnis 302
8.5.2 Moderne Bibelkritik 306
8.5.3 Das Vergessen des Nicht-Kanonisierten 311
12 Inhalt
8.6 Die Schrift als modulationsbereiter Stabilisator der
Erinnerung 313
8.7 Sophistik, Rhetorik, logisches Denken 317
8.8 Die Anfänge der Geschichtsschreibung 321
8.9 Nur eine begrenzte Leistungskraft der GedächtnisStabilisatoren 330
IX. Gedächtnis in der Kritik:
Chlodwigs Taufe und Benedikts Leben 333
9.1 Chlodwigs Taufe 335
9.2 Wer war Benedikt von Nursia? 344
9.3 Resümee 356
X. Memorik: Grundzüge einer geschichtswissenschaftlichen Gedächtniskritik 358
10.1 Auch Historiker vergessen 358
10.2 Die Kulturwissenschaften sind auf interdisziplinäre
Gedächtnisforschung angewiesen -. . . . 362
10.3 Lassen sich Fehlleistungen des Gedächtnisses korrigieren? 367
10.3.1 Der Anfangsverdacht gegen Erinnerungszeugnisse . . . 367
10.3.2 Erste methodische Postulate 372
10.3.3 Kalkulation der Gedächtnismodulation 380
10.4 Erkenntnisgewinn durch Gedächtniskritik 385
Anhang 395
Anmerkungen 397
Abkürzungsverzeichnis 443
Bibliographie 444
Register der Personen, Völker und mythischen Gestalten 501
Register der Orte 507