Das 20. Jahrhundert ist durch eine Neubewertung der Körperlichkeit von Sprache gekennzeichnet. Die stoffliche Einkleidung ist danach nicht mehr, wie Platon noch mutmaßte, das Grab, indem die Ideen gefangen sind - im Sinne der pythagoräischen Austauschbarkeit von sôma (Körper) und sêma (Zeichen und Grabmal). Sinn ist, so ein Konsens der modernen Philosophie,ohne sinnliche Fundierung nicht denkbar. Insofern die sinnliche Bekundung von Sinn stets eine exteriorisierende »Äußerung« bedeutet, ist Sprache nicht länger dem »einsamenSeelenleben« vorbehalten, sondern wird als intersubjektives Medium zur Grundlage nicht nur von individueller Erkenntnis, sondern auch von praktischer Existenz und kulturellerFortexistenz im Medium der Schrift.
Dass Sprache einer körperlichen Fundierung bedarf, ist heute kaum mehr anstößig. Doch die gern bemühte Redeweise vom embodied mind, von der Materialität der Zeichen oder gar derMaterialität der Kultur lässt dabei oft im Dunkeln, was es mit diesem Fundierungsverhältnis auf sich hat. Denn dass Sinn auf einer leiblich-materiellen Unterlage aufruht und von ihr getragenwird, führt noch nicht notwendig zu einer Überwindung dualistischer oder hierarchischer Auffassungen von Leib und Sprache bzw. von Leib und Geist. Selbst wenn man der leiblichenFundierung mehr zuspricht als eine bloß reglose Trägerschaft und den Leib als Ausdrucksmedium begreift, ist er dann wirklich mehr als nur das Mittel, dessen sich die Sprache desGeistes bedient, um ihren eigenen Gehalt zu verwirklichen?
Der Band Leib und Sprache lotet das komplexe Verhältnis von Leiblichkeit und Sprache in verschiedenen Hinsichten aus.
Zum einen stehen die Sprachen des Leibes zur Diskussion. Der Leib fungiert nicht nur in Gestik, Mimik und Gebärde als Ausdruck, sondern hat auch ein bedeutungsgenerierendesVermögen in symbolischen Ausdrucksformen wie der künstlerischen Praxis oder religiösen Ritualen. Zuweilen ist er auch Ausdruck von Bedeutungen, die er gar nicht intendiert hat bzw.»sagen« will. Dies ist etwa bei bestimmten körperlichen Gefühlsausdrücken (wie Rotwerden bei Scham) oder auch bei psychosomatischen Leiden der Fall.
Zweitens geht es um die Leiblichkeit der Sprache, die sich einerseits an der Materialität des Zeichens (Sprache als Ausdruck, klingendes Wort, Text) sowie andererseits an derSinnlichkeit des Sprechens (Stimmlage, Prosodie, Tempo, Mimik) festmachen lässt. Dass Sprache verkörpert ist, bedeutet, dass sie sich immer als »Laut« aktualisieren oder als »Schrift«fixieren muss. Dabei verleiht das materielle Zeichen nicht bloss einem geistigen Inhalt Ausdruck; es prägt diesen Inhalt entscheidend mit. Auch die bedeutungskonstituierende Dimensionder leiblichen Modulierung des Sprechens darf nicht unterschätzt werden. Im Fall des ironisierenden Tons kann der Sinn einer Aussage in ihr Gegenteil verkehrt werden. Dass sichSprache in leiblich-lebensweltlichen Sprechsituationen realisiert, bedeutet, dass sie immer auch in soziale Kontexte und (Macht-)Beziehungen eingebettet ist, welche ebenfalls an derGenerierung des Aussagesinns beteiligt sind.
Drittens ist auf die enge Verflechtung von Leib und Sprache hinzuweisen. Der Leib ist immer auch Ausdruck; die Sprache hat immer auch eine materielle Unterlage, einen »Leib«. Husserlbezeichnet deshalb sowohl den Leib als auch das Kunstwerk und den philosophischen Vortrag als »Einheiten von Leib und Sinn«. Zu dieser Verflechtung kommt die engeWechselwirkung zwischen Leib und Sprache hinzu: Die Sprache wirkt energetisch auf den Körper: Worte schreiben sich in den Körper ein, prägen sich engrammatisch insTiefengedächtnis ein. Umgekehrt hat auch der Leib eine Macht über die Sprache, insofern er deren begrifflicher
Erfassung Widerstand leisten kann. Hier ist beispielsweise auf die Traumaforschung und die Untersuchungen zum Körpergedächtnis zu verweisen, aber auch auf die jüngere hatespeech- Debatte, die sich mit dem Thema der Verletzung durch Worte befasst.
Durch alle Beiträge des Bandes zieht sich die Frage hindurch, ob und in welcher Form ein Sprechen über den Leib möglich ist. Lässt sich über den Leib anders als nur im übertragenenSinn sprechen? Helfen uns hier nichtreduktive und antibegriffliche Strategien wie das Beschreiben und Bezeugen weiter? Zeichnet sich, wenn man Merleau-Pontys Idee einer»Reflexivität des Leibes« ernst nimmt, möglicherweise ein Konzept von Reflexivität ab, das anders verläuft als über propositionale Aussagesätze?
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Verfasser*innenangabe:
hrsg. von Emmanuel Alloa und Miriam Fischer
Jahr:
2013
Verlag:
Weilerswist, Velbrück
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Systematik:
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PH.LS
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ISBN:
978-3-942393-60-7
2. ISBN:
3-942393-60-3
Beschreibung:
1. Aufl., 240 S.
Mediengruppe:
Buch