Josefine Mutzenbacher. Die Geschichte einer Wienerischen Dirne. Von ihr selbst erzählt ist der wohl berühmt-berüchtigtste Text der österreichischen Jahrhundertwende-Literatur. 1906 erschienen, bildet der Text nicht weniger als einen Kristallisationspunkt nahezu aller Diskurse über Sexualität im 20. und 21. Jahrhundert: Ein verbotenes Buch und zugleich einer der großen Erotik-Bestseller in deutscher (oder vielmehr: Wienerischer) Sprache, der Generationen von zentraleuropäischen Männern unter der Schulbank »aufklärte«. Die Fini wurde verfemt, verfilmt und doch auch verteidigt - und immer wieder für ihren obszön-humoristischen Sprachgestus geschätzt, wie etwa von Oswald Wiener, einem der Köpfe der Wiener Gruppe.
Verfasst von einem Anonymus (hinter dem man oft Felix Salten, den Autor des Kinderbuchs Bambi, vermutet hat), stellte sich bei der Mutzenbacher immer schon die Frage, was moralisch erlaubt ist, wenn vom Geschlechtsverkehr erzählt wird, und was nicht - und schließlich, wem dieser Sex gehört: Zählt dieser Roman zu den »jugendgefährdenden Schriften «? Darf man ihn verkaufen und Tantiemen dafür verlangen - oder sollte man ihn besser gesetzlich verbieten? Wer hat ihn wirklich geschrieben, wer darf ihn lesen und wer nicht? Ist seine weibliche Protagonistin Vorreiterin eines neuen sex-positiven Feminismus oder ist der Roman Höhepunkt einer unglaublichen Verdinglichung der Frau als sexueller Ware, ja Kinderpornografie? Wie funktionieren die Strategien dieser Darstellung von Sexualität und innerhalb welches historischen Kontextes können sie erhellend wiedergelesen werden?
Entlang dieser Fragestellungen wurden im Zuge eines eineinhalbtägigen Symposiums Neu- und Re-Lektüren des Skandalbuches aus verschiedenen und vielfältigen Perspektiven unternommen. Das Ergebnis ist der erste umfassende Sammelband zur Thematik, der sich dem Text aus historischer, literatur- und kulturwissenschaftlicher, philosophischer, feministischer, juristischer, psychoanalytischer und forensischer Sicht nähert. Trotz der umfangreichen Wirkungsgeschichte und multimedialen Rezeption des Buches stand eine umsichtige wie interdisziplinäre wissenschaftliche Bearbeitung lange Zeit aus - die neben zahlreichen Detailinterpretationen vor allem auch Material zur Beantwortung der schwierigen Frage liefern soll, wie mit dem Text, dem vermeintlich emanzipatorischen Skandalon Fini umgegangen werden soll. (Verlagstext)
INHALT
Matti Bunzl - Gruß-und Vorwort 7
Clemens Ruthner - »Kindheitserinnerungen, wenn auch freilich sehr geschlechtlich«
Die Mutzenbacher- anstelle einer Einführung 11
1. KONTEXTE
Wolfgang Müller-Funk: Mutzenbacher mit Freud und Foucault 35
Désirée Prosquill: Pepi auf der Couch. Die Mutzenbacher und Freuds Drei Abhandlungen 45
Franz X. Eder: Prostitution in Wien um 1900. Der sozial- und kulturgeschichtliche Kontext 61
Nancy M. Wingfield: Der Fall Riehl, die Mutzenbacher und die Wiener Bordellprostitution um 1900 im Spiegel der Presse Cisleithaniens 83
Katharina Prager: »Gewiss ich habe die 1-Gulden-Mädchen als Madonnen angebetet...«. Karl Kraus und die Ästhetisierungen der Prostitution 111
Vahidin Preljevic: Mutzenbacher-Konstellationen. Skizze zur Wahrnehmungsgeschichte und literarischen Pornographie in Wien um 1900 127
Murray G. Hall: »Nurfür einen wissenschaftlich interessierten Leserkreis bestimmt...« Zum Vertrieb und Verkaufvon erotischem Lesestoff im Wien des 20. Jahrhunderts 147
Brigitte Spreitzer: Weiberfleisch. Josefine Mutzenbacher und ihre literarischen Zeitgenossinnen 165
Riccardo Concetti: Ein Roman der Straße. Hugo Bettauers Die freudlose Gasse zwischen Sex und Sozialreformen 179
2. LEKTÜREN
Ilse Reiter-Zatloukal: Zwischen Strafbarkeit und Kunstfreiheit. Die Mutzenbacher in rechtshistorischer Perspektive 195
Geraldine Smetazko: Der Glaube an den Sexus. Josefine Mutzenbacher als Autopornografie 229
Marina Rauchenbacher & Matthias Schmidt: Inszenierung und Suggestion. Mutzenbachers Medien(reflexion) 247
Caitríona Ní Dhúill: Misstrauisch lesen. Feministische Perspektiven auf eine Sexsucht-Fantasie 265
Martin A. Hainz: Qualität der Zumutung, Zumutung der Qualität. Josefine Mutzenbacher in Text wie auch in Bild 287
Thomas Ballhausen: Erkundungen im Bereich der Anschaulichkeit. Ansätze zu einem Rekurs zu/an Oswald Wiener 303
Susanne Hochreiter: Queering Fini. Ein Essai 315
3. KODA
Franzobel: Meine Mutzenbacher. Ein Epilog 335
4. POSTSCRIPTUM
Basisbibliografie: Mutzenbacher. Sekundärliteratur und Kontexte 337
Die Beiträger*innen dieses Bandes 349