Busonis Klavierkonzert (1902–1904) bildet den Abschluß seiner ersten Schaffensperiode und ist ein Monument seiner phänomenalen Klaviertechnik. Die von ihm gestaltete Titelseite versinnbildlicht das Werk. Von den fünf Sätzen werden I, III und V durch griechisch-römische, ägyptische und babylonische Bauten dargestellt, II und IV durch Naturphantasien.I. Prologo e Introito Der Prologo enthält ein breit angelegtes Hauptmotiv in C-Dur, das schlicht von Streichern vorgetragen wird, gefolg von einer Kadenzgruppe in zwei Abschnitten: einer absteigenden Melodie und einem auffälligen Hornsignal. Diese Motive werden im Tutti ausgearbeitet, wo eine akkordische Streicherfigur unter dem Hornsignal aufbrandet und sowohl das Introito als auch den Einsatz des Solisten ankündigt, der die aufbrandenden Akkorde fortsetzt. Das Orchester schiebt gedämpfte dramatische Tremoli ein, und die Melodie des Solisten wird erst von Holzbläsern, dann von der Trompete verziert. Die Kommentare des Orchesters in Form von Tonleiterergüssen werden immer unverhohlener und setzen die Tonalitäten Des und D in Kontrast zueinander. Das Klavier verschweißt sie zu einer kontinuierlichen Passage, die zu Holzbläserreminiszenzen der Eröffnung den Baß bildet. Im Anschluß an eine Kadenz kommt, von lyrischen Holzbläsern gespielt, das zweite Thema zum Vorschein (E-Dur im Sarabandenrhythmus), während Klavier und Streicher den Hintergrund ausmalen. Das zweite Thema begleitet wiederum eine zärtliche, italienisch anmutende Melodie auf der Oboe, zu der sich später Klarinette und Flöte gesellen. Die episodische Durchführung mündet in der zentralen kataraktartigen Kadenz in Des, die allmählich zu einer sacht wogenden Begleitung verebbt, über der erste eine Solo-Oboe, dann eine Flöte in E-Dur und in der lyrischen Stimmung des zweiten Themas das erste Thema in Erinnerung rufen. Eine Trillerkette führt zur Reprise in Variationsform mit Klavierfiguration im Sopran über dem pizzicato gespielten Thema. Es folgt ein unerwarteter Abstieg nach H-Dur pp. Die akkumulierende Verstärkung der Leidenschaft ist eine bewußte Parodie auf Wagner. Dann läßt die Beklemmung nach, und das Orchester ruft erneut den Anfang in Erinnerung. Die Streicher kommen auf einem leise ausgehaltenen dramatischen Akkord zur Ruhe, über dem das Klavier in einem verhüllenden Klangnebel zur abschließenden Kadenz ansetzt. Das Orchester moduliert zu einem dominantischen Orgelpunkt in C, und das Klavier trägt eine freie Passage mit dreifachen Trillern vor. Das Kadenzthema erklingt über Tremolandostreichern und Klavierläufen heroisch auf der Trompete. Dann erinnert eine gelassene Coda auf einem tonischen Orgelpunkt an die Eröffnung und breitet sich aus wie ein Panorama, ein Ausblick auf die Campagna di Roma.II. Pezzo giocoso Das Klavier setzt hüpfend mit phantastisch verstiegenen Läufen über einem Trommelwirbel, hauchzarten Trillern der Streicher und Holzbläsergegacker im Stil von Berlioz ein. Im höchsten Register funkelt das Klavier wie zerbrechendes Buntglas über einer komisch-heroischen Fanfare, und die Pointe wird mit einer beschwingten danza des Orchesters im 68-Takt erreicht. Ein überaus diabolischer Tanz im tiefsten Register des Klaviers schließt sich an, untermalt vom schwerfällig dumpfen Schlag von Baßtrommel und Becken. Panflötenartige Stürme hohlen Holzbläsergelächters begrüßen die Runden des Tanzes und spornen ihn zum rasanten Strudel an. Ein dynamisches Tutti wird quasi con brutalità entfesselt. Das Klavier wirft sich ins Getümmel, und zwar mit einer kühnen Kadenz, die eine neue Runde des Tanzes begleitet. Zuletzt weicht der Sturm einer Barcarolle tiefer Klavierarpeggien. Eine bebende, pizzicato ausgeführte Tanzbegleitung leitet das neapolitanische Seemannslied Fenesta ca lucive („Das Licht aus jenem Fenster“) ein, gespielt mit der tiefen Melancholie von Chalumeauklarinette und geteilten Celli. Es handelt sich um die Zusammenfassung des Liedes - der besten Teile daraus -, an das man viel später erinnert wird, mit langsam aufeinander folgenden Phrasen und langen Pausen dazwischen, die von den plätschernden Phrasen des Klavier gefüllt werden. Dann singt das Klavier eine Caruso-Serenade, und gezupfte Streichinstrumente pulsieren wie eine große Gitarre. Erinnerung wird herausdestilliert, die Zeit vorübergehend ausgesetzt, und das Solo geht allein mit einer schlafwandlerischen Kadenz weiter. Das Orchester stößt mit einer grausigen Erinnerung an den diabolischen Tanz dazu und zerrt das Solo mit sich, bis das Klavier einen wahrhaftigen Orchesterklang annimmt. Ein plötzliches Diminuendo, dann grollt ein leises Tremolo auf dem Klavier wie ferner Donner. Darüber verweist das Solo abschiednehmend in wehmütigen leisen Oktaven auf das neapolitanische Lied, während dunkle Holzbläserechos antworten. Düstere Stimmung hüllt alles in die teuflische Finsternis des Todestanzes. Orientalisch anmutende Klavierläufe verwehen wie Dunst. Noch eine traurige, von Scheitern kündende Fanfare auf der zertrümmerten Herrlichkeit von D-Dur, und dann hängt ein Streicherakkord wie ein Atemzug in der Luft.III. Pezzo seriosos Dieses meisterhafte musikalische Konstrukt enthält eine Einleitung und drei Teile, die im größten Maßstab angelegt und ausgeführt sind. Die tieferen Streicher setzen einen barocken Baß in Des in Gang, und Klarinette, Fagott und Bratsche stimmen ein sprödes Rezitativ an. Ein Ganzschluß führt zu einem erregten Holzbläsertremolando unter dem dramatischen einstimmigen Klagelied von Oboe und Englischhorn. Die Klage wird lärmender, sobald Klarinetten hinzukommen und Streicher das Tremolando von den Holzbläsern übernehmen. Bässe lassen die Lamentation dunkel widerhallen. Nach einem kurzen, quasi improvisierten Solo deuten Blechbläser und tiefe Holzbläser einen Choral in E-Dur an, und das Klavier kommentiert mit abfallenden akkordischen Läufen, wann immer eine Pause eintritt. Die Läufe werden von den tieferen Streichern wiederholt, während das Klavier in dominantischer Vorbereitung begleitet, die zum I. Teil und der vollständigen Solodarbietung des Chorals überleitet. Eine jähe brillante Arpeggiopyramide des Solisten beendet den ersten Teil. Der II. Teil beginnt in C-Dur mit pulsierenden Streichern und tiefen Bläsern, die ein kühn aus Einzeltönen modelliertes Thema im mittleren Register des Klaviers begleiten. Das Orchester greift die Melodie auf. Über hieroglyphischen Pyramiden pianistischer Figuration führt das Orchester die vorausgegangenen Themen durch. Der anfangs gehörte Barockbaß wird nun unter Strom gesetzt und in stürmische Klavierakkorde verwandelt, die unter einer leidenschaftlichen, jetzt stretto verarbeiteten Wiederholung des Klageliedes aufbranden. Das Klavier zeichnet gespenstische Schatten des Klageliedes nach, derweil Orchesterreminiszenzen eingeschoben werden. Eine erneute Darbietung der Einleitung in verkürzter Form schließt sich an, und es folgen zwei weitere Choralvariationen (immer in Des), zunehmend kompliziert, aber immer ruhig. Celli beschwören vor dem Hintergrund eines Geflechts aus Klavierfiguren das an Chopin gemahnende Nocturne-Thema herauf. Ein langer dominantischer Orgelpunkt macht zum Abschluß einem letzten eindringlichen Vortrag des Klageliedes Platz. Der III. Teil fängt unter klangvollen, italienisch anmutenden Rufen der Holzbläser mit einem pochenden dominantischen Horn-Orgelpunkt in fis-Moll an. Die Musik moduliert zurück nach Des und findet Ruhe in einem Orchesteridyll.IV. All’ Italiana Gedämpfte Violinen schimmern und Holzbläserplaudereien ergießen sich: Springbrunnen im Sonnenlicht. Das Klavier schafft eine tiefe, grollende Begleitung und die Holzbläser setzen Fragmente des zuvor gehörten neapolitanischen Liedes dagegen, wundersam verwandelt in ein canzone a ballo in f-Moll. Eine Solokadenz führt die Musik durch diverse Tonarten weiter, als würde sie durch festliche geschmückte Straßen tanzen. Die Streicher nehmen ihre Dämpfer ab, sobald die Sonne in C-Dur hervorkommt. Das Soloklavier mißt sich im Scheingefecht mit dem Orchester. Eine etwas ernstere Passage deutet eine flüchtige Reminiszenz des langsamen Satzes an. Eine neue danza in b-Moll und in modo popolare sorgt für eine gewisse Dringlichkeit, und das Klavier steigert die Brillanz des Tanzes, indem es ihn einen Halbton höher transponiert und in italienisch wirkende Terzen und in Sexten verarbeitet, die nach Knoblauch und Teer riechen. Ein ungewöhnlicher komischer Effekt entsteht dadurch, daß ein populärer italienischer Marsch zur Beschleunigung des Tempos im Sinne Rossinis eingesetzt wird, jedoch ohne das erwartete Crescendo. Dieser ‘Kuckucksgesang’ mit seiner pointierten Orchestrierung, bestehend aus Fagott und Pizzicato, dürfte nicht zu verfehlen sein. Das Marschlied (im Dialekt, wahlweise mit eingestreuten Witzen) ist allen Bersaglieri bekannt, Angehörigen einer italienischen Elitetruppe, die das schmucke Gegenstück der feschen Soldaten aus dem schottischen Hochland darstellt. Sein Refrain lautet E si e si e si / Che la porteremo und erinnert in seinem prahlerischen Elan wiederum an das schottische Äquivalent: Och aye och aye och aye / Wi’ yon fedder i’ your bonnet / Quick merch to the bloody colonel / Tae Hell wi’ Houghmagandie / An’ pledge ye’re sodgers leal. Der Marsch wird zur Tarantella umfunktioniert. Die Dreistigkeiten häufen sich, bis das Klavier einen Akkord hämmert, wie um die Katzenmusik zum Verstummen zu bringen. Doch statt dessen ruft es sie erneut zum Angriff. La stretta beginnt harmlos mit einer albernen Varieté-Improvisation, setzt sich mit zwei ausschweifend harmonisierenden Klarinetten fort und vergrößert ständig die Besetzung, das Tempo und diesmal auch die Lautstärke. Die Idee, Rossini auszustechen, indem das Accelerando zweimal dargeboten wird - einmal ohne, einmal mit Crescendo - ist ein bühnenreifer Geniestreich und steigert die Musik zu unglaublicher, der Belastungsgrenze naher Erregung. Als wäre das noch nicht genug, bekommen wir dann eine weitere Stretta vorgesetzt, die den Marsch über die Tarantella stülpt. Der Solist stellt alles in den Schatten mit einer brillanten Kadenz, die einen stürmischen Höhepunkt erreicht, wonach dem Orchester nur noch die Aufgabe bleibt, mit einer Klangsalve den Tonika-Akkord C wiederherzustellen. Wenn dann alles vorbei zu sein scheint, erfährt man, daß die Stille trügerisch ist. Drei leise Pizzicatoakkorde verkehren die Musik unerwartet in Moll und lassen sie schwinden wie die bizarren Schatten der letzten Festgäste, die sich in unvorstellbar geheimnisvolle Gassen verlieren.V. Cantico Der Satz beginnt tiefernst in e-Moll mit Klavier- und Streicherarpeggien und ausgehaltenen Trompetenklängen. Fagotte und Hörner rufen das ausgeformte Thema aus dem Mittelteil des langsamen Satzes ins Gedächtnis und die Trompeten und Posaunen antworten, während das Glockenspiel über das Ganze seine magische Aura fallen läßt. Die Oboe erinnert sich an eine Melodie aus dem ersten Satz: Nun scheint alles im Kaleidoskop der Erinnerung zurückzukehren. Das idyllische Ende des Mittelsatzes wird in E-Dur auf tiefen gedämpften Streichern wiederaufgenommen, der unsichtbare Männerchor fügt der Musik ein weiteres Klangregister hinzu und singt eine mystische Hymne auf einen deutschen Text des dänischen Dichters Oehlenschläger: Hebt zu der ewigen Kraft Eure Herzen. Sie ist unter anderem auch eine Ode an die großen, beständigen Leistungen antiker Zivilisationen. Die Musik des Chors ist aus dem grandiosen Einsatz abgeleitet, den das Klavier im ersten Akt gespielt hat. Ein weiteres Mal wird des Mittelteils in C-Dur aus dem langsamen Satz gedacht, ebenso des kühn modellierten Themas, und zwar diesmal in gesungener Form. Die aufbrandende Akkordfigur des Prologo kehrt wie die Flut zurück. Darunter hören wir eine Ganztonvariation über das neapolitanische Seemannslied. Dann geschieht das Unerwartete: Jeglicher Tiefsinn wird von einem bestechend bravourösen Schlußabschnitt hinweggefegt. Der Musikforscher Edward Dent hat sich geirrt, als er diesen Schluß als ‘lediglich konventionell’ abtat. Er ist eine Geste der Verzweiflung, nicht jedoch der erschöpften Erfindungsgabe. Seine Botschaft lautet: vanitas vanitatum. Er gleicht der Babylonierin aus der Offenbarung des Johannes (17): Auf seiner Stirn steht geschrieben ein Geheimnis und in seinem Herzen herrscht Verzweiflung. MULTAE TERRICOLIS LINGUAE, COELESTIBUS UNA.Nachschrift Busoni’s Klavierkonzert ist der Höhepunkt seiner Jugend, seiner ersten Schaffensperiode. Meine lange Einleitung schrieb ich (für John Ogdon) in meiner Jugend. Heute, als gereifter Mann, sollte ich sie in ihrem perspektivischen Umfeld lesen und nicht kritisch im Rückblick betrachten. Überschwenglichkeit gehört sowohl zur Musik wie zu meinen Abhandlungen über sie. Busoni komponierte dieses Mammutkonzert zwar erst in seinen späten Dreißigern, hatte es jedoch bereits mit 16 begonnen! Er schrieb 1883 eine Etüde in Des-Dur, die ihn offensichtlich nie ganz losließ: Er spielte sie seiner amerikanischen Schülerin Augusta Cottlow vor und bedankte sich für ihren Enthusiasmus damit, dass er sie ihr widmete. Als junger Mann plante er für das Märchenspiel Aladdin des dänischen Dichters Oehlenschläger die Musik zu schreiben; aus dem Entwurf wurde der Männerchor des Klavierkonzerts. Als sich Busoni seine Karriere als Komponist genauer betrachtete, kam er zu dem Schluss, dass seine erste Schaffensperiode, die in diesem Klavierstück kulminierte, von einer meisterhaften Kunst der Überfülle gekennzeichnet war. Er entwickelte sich weiter zum Meister der Verfeinerung, wobei seine Spätwerke eine noch größere Dichte aufweisen. Diese Entwicklung kann man in seiner ersten, herrlich komischen Oper Die Brautwahl (1911) verfolgen. Seine späteren Opern - Arlecchino, Turandot und Doktor Faust - sind eine Vervollkommnung seiner ersten, genau wie seine Indianische Fantasie op. 44 ein Ausfeilen des Klavierkonzerts darstellt. Man betrachtete das Klavierkonzert nicht so sehr als ein Werk für sich, sondern eher als ein symphonisches Vorspiel mit einem ausgedehnten Klavierpart. Busoni nannte es später bei sich seine ‘Italienische Oper’. Die Nüchtern-, ja selbst Bescheidenheit von Busonis Ansatz zeigt eine erstaunliche Zurückhaltung von Seiten eines solchen Virtuosen und ist bereits bei den Tempobezeichnungen des ersten Satzes ersichtlich: Er gibt nicht „Allegro brillante“ an, was man vielleicht erwartet hätte, sondern „Allegro, dolce e solenne“ (ein sanftes, feierliches Allegro). Diese Zurückhaltung verweist auf die „junge Klassizität“, für die er sich einsetzte und die einer Gegenbewegung zur Romantik gleichkam. Busoni zollt seinem Hörer das Kompliment, dass er zuhören und unterscheiden kann. Ronald Stevenson © Deutsch: Anne Steeb / Bernd Müller
Verfasser*innenangabe:
Busoni. Marc-André Hamelin [Kl] ; City of Birmingham Symphony Orchestra ; Mark Elder [Dir.]
Jahr:
1999
Verlag:
London, Hyperion Records Ltd.
Enthaltene Werke:
Piano Concerto in C major op. 39
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Systematik:
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CD.01C
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Beschreibung:
1 CD (73 Min.) : DDD
Originaltitel:
Konzerte, Kl Orch, K 247
Fußnote:
Interpr.: Marc-André Hamelin [Kl]. City of Birmingham Symphony Orchestra. Jacqueline Hartley [Konzertmeisterin]. Mark Elder [Dir.]. City of Birmingham Symphony Chorus. Simon Halsey [Chorltg.]. - Bestellnr.: CDA67143
Mediengruppe:
Compact Disc