Die amerikanische Meeresbiologin Piya ist tief beeindruckt von Fokirs Gespür für das Wasser. Als sie dem schlanken Mann ihre Delfinbilder vorlegt, zeigt er zu ihrer Überraschung flussaufwärts und rudert sie dann mit seinem schmalen Boot zu den Delfinen, vorbei an dem in satten Grüntönen schimmernden Mangrovendickicht, das nur in Zeiten der Ebbe aus dem Brackwasser hervortritt. Während er seine Krebsnetze auswirft, beobachtet sie die stahlgrauen Säuger. Dabei finden der Fischer und die Forscherin zueinander, ohne Worte, denn sie sprechen keine gemeinsame Sprache. Es herrscht eine unbegreifliche Nähe, und als sie gemeinsam in den kühlen Morgenstunden dem Pfeifen der Tiere lauschen, glaubt Piya, einen Menschen getroffen zu haben, der ihre Sehnsucht nach mystischer Verschmelzung mit der Natur teilt. Zwei Tage verbringen die beiden an Bord, bis der Krebsfischer auf die Insel Lusibari zusteuert, wo er mit seiner Familie lebt und wo die junge Amerikanerin Kanai besuchen möchte, einen gut zwanzig Jahre älteren Dolmetscher aus Neu-Delhi, den sie im Zug in die Sundarbans kennen gelernt hat. Er hat sie zu seinen Verwandten eingeladen, weil ihm ein kleiner Flirt auf seiner Reise in eine traurige Vergangenheit ganz gelegen kommt. Kanai ist nach Lusibari gefahren, um das Tagebuch zu lesen, das ihm sein Onkel Nirmal schon vor zwei Jahrzehnten vermacht hat. Nach der Lektüre glaubt der Großstädter aus der Oberschicht etwas mehr vom Leben in diesem Inselreich zu verstehen, in dem der Mensch seine Umwelt nicht zu bezwingen vermag, in dem die wahren Herrscher Flut und Sturm, Krokodile und Königstiger sind. Und er glaubt den jungen Fokir, der ihm die attraktive Ausländerin abspenstig macht, besser zu verstehen. Denn beide Männer verbindet Kusum, Fokirs Mutter und Kanais Jugendliebe. Zu ihr hatte sich einst auch sein Onkel Nirmal hingezogen gefühlt, wie dessen Aufzeichnungen verraten.Nirmal berichtet in seinem Tagebuch von den letzten Monaten vor seinem Tod im Jahr 1979. Damals war er Kusum gefolgt und hatte sich einer Gruppe marxistischer Siedler angeschlossen. Sie hielten eine Insel besetzt, um gegen die Ausweitung des Nationalparks und das Artenschutzprogramm »Projekt Tiger« zu protestieren. Der Umwelt- und Tierschutz bedrohte die Lebensgrundlage der Bevölkerung, denn von was sollten sie leben, wenn nicht von der sowieso schon kümmerlichen Landwirtschaft und Fischerei? Und warum nur sollten die Königstiger geschützt werden, die jährlich rund hundert Opfer forderten? Zur Niederschlagung des Aufstands sandte die Regierung Truppen in die Region, die Aufständischen wurden gefangen genommen – und keiner wurde jemals wieder lebend gesehen, auch Kusum nicht. Der Verlust trieb Nirmal in den Wahnsinn und bald darauf auch in den Tod. Überlebt hat nur Fokir, Kusums Sohn. Obwohl Kanai nun Fokirs tragische Geschichte kennt und er gewisse Sympathien für den Sohn seiner Jugendliebe hegt, versucht er eine weitere Annäherung zwischen dem Fischer und der Forscherin mit allen Mitteln zu verhindern. Als Piya und Fokir nach wenigen Tagen zu neuerlichen Feldstudien aufbrechen, begleitet Kanai sie, und so begeben sich die drei auf eine Reise dem unvermeidlichen Eklat entgegen. Kanai will Piya die Augen darüber öffnen, dass Fokir, der weder lesen noch schreiben kann, nicht zu einer studierten Frau aus dem Westen passt. Doch erst als Fokir in einem Dorf bei der Tötung eines Tigers hilft, erkennt Piya die Kluft zwischen ihnen, erkennt, dass der Fischer alles andere als ein »edler Wilder« ist. Fokir spürt, dass ihre anfängliche Zuneigung nun einer Abneigung weicht und gibt seinem Nebenbuhler die Schuld daran. Als die Männer in einem Beiboot unterwegs sind, zwingt der Einheimische den arroganten Fremden an Land der Insel Garjontola und lässt ihn dort allein, wenngleich er weiß, dass ein Tiger durch das Unterholz schleicht. Gemäß der Überlieferung wird auf dieser Insel nur frei von Angst sein, wer ein reines Herz hat. Doch Kanai gerät in Panik, und gerade noch rechtzeitig kommt ihm Piya zu Hilfe. Entsetzt möchte er nun keinen Tag länger an Bord bleiben und bittet den Bootsmann, ihn zurück nach Lusibari zu rudern – nicht ohne zuvor die Amerikanerin zu fragen, ob sie mit ihm nach Neu-Delhi kommen wolle. Piya bleibt bei Fokir und macht sich mit ihm erneut auf die Suche nach Delfinen. Während beide Boote noch auf dem Wasser sind, zieht plötzlich ein Zyklon auf. Zuerst reißt er nur Blätter mit sich, nach kurzer Zeit größere Äste, ganze Mangroven, und dann brechen gigantische Flutwellen über das Inselreich herein. Nur einer der beiden Männer überlebt. Und so hat die Naturgewalt für Piya über die Liebe entschieden. Die unerfüllte Liebe zwischen zwei Männern und einer Frau – zwei Weltsichten und kein möglicher Konsens. In »Hunger der Gezeiten« paart der »große Fabulierer« (DIE ZEIT) Amitav Ghosh eine wunderbar-tragische Dreiecksgeschichte mit seinem Lebensthema: dem Clash of Cultures. In der Konfrontation von westlicher romantisierender Naturerfahrung mit der nahezu darwinistischen Sicht des Ostens variiert er dieses Thema auf bisher ungekannte Weise. Ein nachdenklich stimmendes Buch, das zugleich den Sundarbans ein Denkmal setzt: dem alltäglichen Leben in diesem unwirtlichen Archipel, einer der ärmsten Regionen Indiens, der durch Kolonialisierung geprägten Historie, den religiösen und mythologischen Überlieferungen. Und dem größten Mangrovenwald auf Erden mit seiner Artenvielfalt - einem verletzlichen Ort, weil die Umweltverschmutzung gravierende Auswirkungen auf Flora und Fauna hat und weil die Inseln zur Gänze überflutet sein werden, steigt der Meeresspiegel an. »Hunger der Gezeiten« ist ein virtuos erzähltes und ungemein spannendes Abenteuer vor einer atemberaubenden Kulisse.
Verfasser*innenangabe:
Amitav Ghosh. Aus dem Engl. von Barbara Heller
Jahr:
2004
Verlag:
München, Blessing
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Systematik:
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DR, I-04/18
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ISBN:
3-89667-203-7
Beschreibung:
1. Aufl., 459 S.
Schlagwörter:
Amerikanerin, Belletristische Darstellung, Delphine <Familie>, Forschung, Sundarbans, Dolmetscher, Dreierbeziehung, Fischer, Indien, Naturwissenschaftlerin, Amerikanische Frau, Delfine <Familie>, Delphinidae, Forschungen, US-Amerikanerin, Wissenschaftliche Forschung, Altindien, Bharat, Britisch-Indien, Dreiecksbeziehung, Dreiecksverhältnis, Forscherin <Naturwissenschaften>, Hindostan, Hindustan, Indische Union, Naturforscherin, Triade <Soziologie>
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Originaltitel:
The hungry tide <dt.>
Mediengruppe:
Buch