1992 versuchte Ernst Nolte, ein Schüler Heideggers, dessen Thesen zum europäischen Faschismus den Historikerstreit ausgelöst hatten, Heideggers Entscheidung für den Nationalsozialismus verständlich zu machen. Er bediente sich dabei seines umstrittenen Arguments, dass der Nationalsozialismus, als Antibolschewismus genommen, historisch im Recht gewesen sei. Mit Hilfe begrifflicher Differenzierungen zwischen „großem“ und „kleinem Lösungsversuch“, zwischen einem „nationalen Sozialismus“, einem „sozialen Nationalismus“ und einem „Radikalfaschismus“ kommt Nolte zu dem Schluss, dass Heidegger allenfalls der Richtung eines „kleinen Lösungsversuches“ in Form des „nationalen Sozialismus“ zuzurechnen sei. Damit sei er gescheitert, weil auch Hitler den Anspruch erhob, „deutscher Sozialist“ zu sein. Aber Hitler habe etwas wesentlich anderes als Heidegger gewollt. Zwar beurteilte Heidegger die Verwandlung von Geist in „Intellekt“ ebenso negativ wie die ganze Lebensphilosophie und wie – auf seine Weise — Hitler. Aber niemals suche er die Ursache in den Juden, wie es Hitler und übrigens auch ein bedeutender Denker, nämlich Ludwig Klages, getan haben. Heidegger hätte recht, als er dem Drängen Marcuses und anderer nach einem „Schuldgeständnis“ nicht nachgab: „Wer 1933 glaubte, im Rahmen der Nationalsozialistischen Partei einen ‚Deutschen Sozialismus‘ verwirklichen zu können und sich nach dem 30. Juni 1934 auf erkennbare Weise von dem Regime distanzierte, braucht keine Mitschuld an den späteren Untaten des Radikalfaschismus zu übernehmen“. Nicht „Schuld“ sei die adäquate Kategorie, um das Verhältnis des nationalen Sozialismus zum Radikalfaschismus zu bestimmen, sondern „Tragödie“. Und hinsichtlich der angeblichen „Denunziationen“ durch Heidegger solle nicht vergessen werden, „daß Georg Lukács, ohne viel Anstoß zu erregen, in seiner Autobiographie erzählen darf, er habe während seiner Tätigkeit als Politischer Kommissar bei einer Armee sieben Deserteure erschießen lassen, und daß von Ernst Bloch, ohne viel Anstoß zu erregen, berichtet werden kann, er habe während der Moskauer Prozesse den Angeklagten ‚Mitleid mit den Kulaken‘ vorgeworfen, während Heidegger wegen bloßer Aussagen in der noch flüssigen Anfangsphase von 1933/34 die schwersten Vorwürfe gemacht werden.“ Den Umschwung im Jahr 1933 stellt Nolte als „Volkserregung und Volksbewegung“ dar. Heidegger sei in diesem Kontext „vielleicht zum ‚Faschisten‘“ dadurch geworden, dass er sich „für die ‚kleine Lösung‘“ engagierte, „aber er geriet deshalb keineswegs von vornherein ins historische Unrecht“: „So wie man auch heute den Vorkämpfern der ‚großen Lösung‘ Anerkennung zollen kann, weil sie sich von guten Intentionen leiten ließen und einige Grundzüge der Entwicklung richtig voraussahen, so sollte man heute imstande sein, den Vertretem der ‚kleinen Lösung‘ ebenfalls Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, auch wenn man konstatiert, daß dieses Unternehmen nicht minder gescheitert ist. In politischer Perspektive ist Heidegger am ehesten als ‚nationaler Sozialist‘ zu bezeichnen, der die im Ansatz schon erfolgte ‚Klassenversöhnung‘ zu einer vollständigen und anschaubaren machen wollte, und zwar so, daß diese Gemeinschaft zugleich den Mut hätte, sich der ‚Ungewißheit des Seienden im Ganzen‘ auszusetzen.“ Ernst Nolte besteht auf Heideggers oft unerwarteter Fortschrittlichkeit: Wegen seiner Warnung vor den Gefahren des Atomzeitalters sei „dieser ‚Reaktionär‘ 1955, mitten im Enthusiasmus über die ‚friedliche Nutzung der Kernenergie‘, erstaunlich ‚progressiv‘“. Seine politische Couleur sei „weit eher ‚grün‘ als ‚braun‘“. In der Rede über Abraham a Sancta Clara von 1964 stimme Heidegger „einem alten Angriff gegen das Geld uneingeschränkt [zu], der mit ganz ähnlichen Worten auch von dem jungen Marx“ artikuliert wurde. Für Ernst Nolte besteht kein Widerspruch zwischen diesen „fortschrittlichen“ und „sozialistischen“ Aspekten von Heideggers Werk und seinem nationalsozialistischen Engagement, sondern im Gegenteil damit eng zusammenhängt: Heidegger vertrete politisch wie der Nationalsozialismus die „kleine Lösung“ der Modernitätsprobleme, die zwar nur „halbsozialistisch“, aber gerade deswegen „realsozialistisch“ sei. Heidegger sehe im russischen Bolschewismus einen „metaphysischen Vorsprung“ und übernehme anscheinend „das marxistische Verständnis von ‚bürgerlich‘“. Auch die von Heidegger selbst herausgestrichene Affinität seiner „Hochschulreform“ mit den Programmen der Studentenrevolten der Jahre nach 1968 sei in einem gewissen Maß begründet.
Verfasser*innenangabe:
Ernst Nolte
Jahr:
1992
Verlag:
Berlin [u.a.], Propyläen
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PI.BF
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ISBN:
3-549-07241-4
Beschreibung:
330 S.
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Mediengruppe:
Buch