Was hat die Kriminalliteratur mit der Paranoia und den Sozialwissenschaften zu tun? Dieser Frage geht Luc Boltanski in seinem höchst originellen, preisgekrönten Buch nach. Seine Antwort: Wie die Sozialwissenschaften entsteht auch die Kriminalliteratur um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, und in diese Zeit fällt auch die Entdeckung der Paranoia in der Psychiatrie. Zusammen zeugen sie von einem sich zunehmend verbreitenden Zweifel an der »Realität der Realität«, der als Symptom der Moderne gelten kann.Boltanski deckt diesen faszinierenden Zusammenhang zwischen Kriminalliteratur, Paranoia und Wissenschaft insbesondere durch fulminante Analysen der Romane von Arthur Conan Doyle und Georges Simenon auf. Während in England der Privatmann Sherlock Holmes durch die Lösung von Rätseln und Komplotten in der englischen Oberschicht die Stabilität der Realität wiederherzustellen sucht, ist es in Frankreich der asketische Beamte Maigret, der in den Pariser Milieus seine Nachforschungen anstellt. Auf brillante Weise verknüpft Boltanski seine literatursoziologischen »Ermittlungen« zur Kriminal-, Spionage- und Verschwörungsliteratur mit solchen zum Paranoia-Diskurs in der Psychiatrie und zur Entstehung der sozialwissenschaftlichen Erforschung der sozialen Realität: Wie der Detektiv oder Kommissar sucht auch der Paranoiker oder Sozialwissenschaftler nach der Wirklichkeit hinter der sozialen Wirklichkeit. Ein Meisterstück! (Verlagstext)
AUS DEM INHALT:
Inhalt
Vorwort 13
Erstes Kapitel REALITÄT/gegen/Realität 21
Aristide Valentins Londoner Odyssee 21
Was unter einem "Rätsel" zu verstehen ist 24
Kriminalroman versus phantastische Erzählung und Schelmenroman 27
Die Verfassung der Realität: Reales versus Realität . . 36
Gesellschaftsroman, Kriminalroman, Spionageroman . 40
Die Realität in der Krise: Komplottform und Untersuchung 43
Realität und Nationalstaat 46
Worum es im Kriminalroman und Spionageroman geht 50
Kriminalroman und Demokratie 62
Der englische Staat und der französische Staat .... 64
Der Polizist und der Detektiv 69
Kriminalroman, Spionageroman und Soziologie ... 74
Kriminalroman und Spionageroman als Transformationssysteme 80
Zweites Kapitel Die Untersuchungen des Londoner Detektivs 87
Der bindungslose Detektiv 87
Herren und Diener 92
Legalität und Normalität 103
Der Detektiv als Mann der Tat 113
Skandale und Affären 121
Wie lässt sich ein Skandal vermeiden? 128
Klassengesellschaft und Rechtsstaat 135
Konservative Kriminalerzählung und kritischer Krimi 143
Drittes Kapitel Die Untersuchungen des Pariser Polizisten 151
Die französische Quelle des Kriminalromans 151
Vom sozial ausgerichteten Fortsetzungsroman zum Justizroman 153
Die zwei Gesichter des Staates: Administrative Kontinuität und politische Unstetigkeit 160
Kommissar versus Detektiv 168
Der gespaltene Maigret 172
Polizeimaßnahmen 176
Die Kompetenz des Ermittlers 180
Maigrets Anthropologie 189
Die persönliche Macht des einfachen Verwaltungsbeamten 196
Maigret in seinem Schloss 201
Der Kriminalroman aus Sicht des Staates 207
Die sozialen Grundlagen der verbrecherischen Phantasie 211
Viertes Kapitel Die Identifizierung von Geheimagenten 229
Der Spionageroman als Weiterführung des Kriminalromans 229
Die zwei Zustände des Staates 232
Spionageroman und Kriegsroman 235
Wer ist der Feind und wo befindet er sich? 237
Die neununddreißig Stufen als Prototyp des Spionageromans 240
Thema und Variationen 246
Der Staat im ursprünglichen Spionageroman 248
John Buchans implizite Soziologie 251
Der Ort der Macht 254
Staat und Nation; Volk und Kapitalismus 257
Die Judenfrage 262
Die fehlende Masse der Kausalität 266
Rund um die Protokolle der Weisen von Zion 268
Die Kehrtwende 277
über dem Komplott 283
Der Spiegel der Komplotte 286
Die Symmetrisierung der Anschuldigungen 291
Die Enthüllung, dass der Staat ein Komplott darstellt 296
Fünftes Kapitel Die endlose Untersuchung der ¿Paranoiker¿ 307
Komplott und Paranoia 307
Eine klinische Deutung der Paranoia 309
Die ersten Paranoia-Konzeptionen 314
Der Ressentimentmensch als Verkörperung der Moderne 318
Der Aufstand der frustrierten Intellektuellen 324
Nihilismus, Ambivalenz und Ressentiment 328
Von der Individualpathologie zur Sozialpathologie . . 335
Liberalismus oder ... Paranoia 339
Die Paranoia-Epidemie 349
Woran erkennt man Verschwörungstheorien? 353
Was ist ein Komplott? 362
Wie weit soll die Untersuchung gehen? 368
Akzeptables und Inakzeptables 379
Die Grammatik der Normalität 385
Die Grammatik der Wahrscheinlichkeit 389
Sechstes Kapitel Die Policey der soziologischen Untersuchung 399
Die Soziologen und ihre "Dummheiten" 399
Die Frage der Kausalität 402
Juristische Entitäten, soziologische Entitäten und narrative Entitäten 409
Der "Aberglaube" der Sozialwissenschaften 416
Wie kann man Poppers Fluch entgehen? 425
Netzwerke und Seilschaften 440
Wie soll man mit der Multipositionalität umgehen? . . 444
Soziologische Untersuchungen, journalistische Untersuchungen, polizeiliche Untersuchungen .... 449
Das Ereignis in journalistischen Schilderungen und soziologischen Studien 461
Epilog Und die Geschichte kopierte die Literatur 473
Danksagung 483 Namenregister 487
Sachregister 495