VERLAGSTEXT: / / Dieses Buch zeigt, wie Bowlbys Bindungstheorie für die therapeutische Praxis umgesetzt werden kann. Psychische Störungen lassen sich vielfach als Bindungsstörungen diagnostizieren. Karl Heinz Brisch führt die verschiedenen Spielarten einer solchen bindungsorientierten Psychotherapie vor. Seit John Bowlby gilt die Bindung, die ein Kind im Lauf des ersten Lebensjahres zu seiner Mutter aufbaut, als wesentlich für die frühkindliche Entwicklung. Ein spezifisches Bindungssystem entsteht, das in seinen Grundmustern während des ganzen Lebens relativ konstant bleibt. Auch wenn Bowlby zeigte, daß Verlust und Trennung im frühen Lebensalter zu schweren Traumatisierungen führen, hat die Psychotherapie bisher wenig von diesen Erkenntnissen profitiert. Karl Heinz Brisch demonstriert anschaulich, wie die Bindungstheorie Bowlbys in der klinischen Praxis angewendet werden kann. Nach einem Überblick über die wichtigsten Aspekte der Bindungstheorie entwickelt er ein Modell und eine Klassifikation der verschiedenen Formen der Bindungsstörungen. Es umfaßt unterschiedliche Altersgruppen, vom Säuglings-, Kleinkind- bis zum Erwachsenenalter. Anhand von zahlreichen sehr lebendigen Fallbeispielen zeigt er, wie ein bindungsorientierter Ansatz sich in verschiedenen Settings - ambulant, stationär oder in Kooperation mit Kinderärzten und Gynäkologen - gestalten kann und ein wertvolles Mittel darstellt, psychische Störungen unter einer neuen Perspektive zu diagnostizieren und zu behandeln. Auch im pädagogischen Bereich eröffnet dieser Ansatz erweiterte Perspektiven des Helfens. / Bindungen Internalisierung (Stabilität der inneren Bilder, Emotionale Bedeutung der Anderen, Strukturspezifische Angst bei Objektverlust) Loslösung (Toleranz für Trennungen, Trauerfähigkeit) Variabilität der Bindungen (Unterschiedliche Bindungen, Triadische Beziehungskonstellation) Bindungen haben zweierlei Funktionen, einmal Schutz und Entspannung bei Angst und Gefahr und zweitens entspanntes Kennenlernen der Umwelt im Schutz der sicheren Basis. Beide Aspekte sind notwendige Voraussetzungen für Anpassung im biologischen Sinn. Darum gilt als Kennzeichen einer sicheren Bindung auch konzentriertes Explorieren, wenn im Schutz der Bindungsperson die Umwelt ungefährlich ist. Teil der Definition von Bindungssicherheit ist das Konzept Sicherheit der Exploration mit folgenden Merkmalen: 1. Realistische Wahrnehmung der Gefährlichkeit/Ungewißheit einer Situation. 2. Erwartung, daß alle Signale der Hilfsbedürftigkeit aber auch der Wunsch nach ungestörter Exploration feinfühlig beantwortet werden. 3. Erwartung, daß sich die Bindungsperson bei engagiertem Tun nicht ungefragt einmischen wird, aber auch, daß der Schutz nicht verweigert wird. 4. Bei explorativer Verunsicherung Erwartung, daß Unterstütung und Anleitung so feinfühlig gegeben wird, daß die Aufgabe ohne Unterbrechung der Konzentration weiter verfolgt werden kann und mit eigenen Kräften und Fähigkeiten meistern kann. Empirisch und prospektiv läßt sich zeigen, daß väterliche feinfühlige Herausforderung im Spiel mit dem Kleinkind langfristig die Sicherheit der Exploration fördert, z. B. gemessen an Fremdbeurteilungen im Alter von 16 Jahren. Auch in einer traditionellen Kultur (Trobriand Inseln) explorieren Kleinkinder mit sicherer Bindung zur Mutter häufiger ´fremde´ Spielsachen als Kinder mit unsicherer Mutter-Bindung. Der menschliche Säugling ist verhaltensbiologisch präadaptiert auf erwachsene Mitmenschen. Bindungen an besondere Erwachsene entwickeln sich durch die Art, wie diese die Kommunikation seiner Bedürfnisse beantworten: Nehmen sie diese wahr, interpretieren sie sie richtig, und reagieren sie angemessen und prompt. Dies bewirkt bereits mit 12 Monaten sichere oder verschiedene unsichere Organisationen von Bindungsgefühlen und -verhalten (Ainsworth). Sie sind in diesem Alter (noch) nicht kind- sondern beziehungsspezifisch. Kognitive Entwicklungen bewirken später einen ersten Übergang von ziel-orientiertem zu ziel-korrigiertem Verhalten (Bowlby). Dabei werden je nach Bindungsqualität eigene Absichten und Repräsentationen zunehmend mit denen der Bindungspersonen abgestimmt. Sprachliche Diskurse spielen bei der Entwicklung solcher narrativer Autobiographien eine zentrale Rolle (Nelson). Sprachliche Kohärenz betrifft dabei einmal die linguistische Stimmigkeit des Gesagten, und zum andern die Übereinstimmung mit dem tatsächlichen Geschehen. Dies führt zum zweiten Übergang zu narrativen Repräsentationen von Bindung wie im Adult Attachment Interview (Main). Die Vielzahl von Kriterien zur Bewertung Innerer Arbeitsmodelle Erwachsener auf der Grundlage sprachlicher Repräsentation von Bindung wird wie folgt gesehen: Das handlungsfähige Individuum lernt durch Einbindung in seine soziale Mitwelt (´Ressourcenaktivierung´) realistische Ziele in seiner wirklichen Umwelt (´Perspektiven´) zu verbinden mit seiner kognitiven und emotionalen Innenwelt und mit seinen Kompetenzen (´Motivklärung´). Dies steht im Dienste individueller Anpassungen an psychologische Komplexität und führt zu unterschiedlichen Entwicklungsverläufen. Dabei spielen evolutionsbiologische (Donald), psycholinguistische (Nelson), kognitiv- entwicklungspsychologische (Harris, Meins) und klinische (Fonagy, Grawe) Ansätze mit. Sogar Aspekte moderner Intelligenzforschung, die von der Herstellung internaler Kohärenz und externaler Korrespondenz ausgeht (Sternberg) tragen zu dieser, wie es scheint, bei weitem umfassensten Integration umfassender theoretischer und empirischer Erkenntnisse bei. Die Bindungstheorie geht davon aus, daß in Abhängigkeit von frühen Beziehungserfahrungen verschiedene Bindungsstile im Sinne adaptiver Verhaltensmuster entstehen. Main (1990) spricht von der Entwicklung einer primären Bindungsstrategie, wenn Wünsche nach Zuwendung und Unterstützung zuverlässig befriedigt wurden. Ein Mangel an derartigen Erfahrungen führt dagegen zur Entstehung sekundärer Bindungsstrategien: Nicht vorhersagbare Zuwendung hat eine hyperaktivierende Bindungsstrategie zur Folge, eine deaktivierende Bindungsstrategie entwickelt sich aufgrund nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen verfügbarer Bezugspersonen. Kobak und Cole (1994) postulieren, daß bei vorliegender Deaktivierung des Bindungsverhaltenssystems bindungsrelevante Informationen (und zugehörige Gefühle) vom Bewußtsein ferngehalten werden, bei einer Hyperaktivierung werden sie hingegen intensiver wahrgenommen.Im Mittelpunkt der Bindungstheorie steht die Annahme, daß Kinder gegen Ende ihres ersten Lebensjahres eine differentielle Beziehungsqualität gegenüber ihrer primären Bezugsperson entwickelt haben, die den weiteren Entwicklungsverlauf ausschlaggebend beeinflußt. Eine zentrale Annahme der Theorie besagt, daß individuelle Unterschiede der Bindungsmuster wie sie in der Fremde-Situation beobachtet werden können auf unterschiedliche Erfahrungen der Kinder während ihres ersten Lebensjahres zurückgeführt werden können. Diese Erfahrungen werden mittels des Konzeptes mütterlicher "Feinfühligkeit" beschrieben und untersucht. Meta-Analysen und aktuelle Studien zeigten jedoch, daß die empirischen Befunde diese Annahme noch nicht eindeutig bestätigen konnten. Insbesondere sind Vorhersagen aufgrund sehr früher Interaktionsanalysen noch relativ selten. Wenn Kleinkinder im Alter von rund einem Jahr bei einer Trennung von der Mutter heftige Tränen vergießen, müssen sich die Eltern keinerlei Sorgen machen. Eine solche Reaktion des Kindes sei völlig normal, sagte der Kinderpsychiater Dr. Karl Heinz Brisch, Leiter der Kinderpsychosomatik am Dr. von Haunerschen Kinderspital im Vorfeld des internationalen Kongresses zur frühkindlichen Bindung. Anlass zur Sorge bestehe vielmehr bei den pflegeleichten Kleinkindern, die ohne Probleme bei anderen Personen blieben, sagte Brisch. Bei "pflegeleichten" Kindern liege oft eine Störung in der frühkindlichen Bindung an die Hauptbezugspersonen vor. Diese pseudo- autonomen Kinder ließen sich den Trennungsschmerz nicht anmerken, bezahlten dies aber mit großem inneren Stress. In mehreren Studien sei belegt worden, dass diese Kinder in solchen Situationen extrem viel Stresshormone ausstoßen, auch wenn sie äußerlich cool bleiben. Die Ausbildung der emotionalen Bindung, die ein Kind im Laufe des ersten Lebensjahres an seine Hauptbezugspersonen entwickle, habe Auswirkung auf das gesamte spätere Leben. Mit dem Alter von rund einem Jahr sei für das Kind die Hauptbindungsperson nicht mehr beliebig austauschbar. Bindungsgestörte Kinder könnten im Extremfall psychosomatisch derart reagieren, dass sie nicht mehr wachsen. Dies sei eine Reaktion auf den gravierenden Mangel an Zuwendung, erklärte Brisch. Nach den Ergebnissen mehrerer Studien zeigen nur rund 65 Prozent aller Kinder ein sicheres Bindungsverhalten, beim Rest liegen mehr oder weniger gravierende Bindungsstörungen vor, hieß es. Die Experten warnten Eltern vor Drohungen mit einer Trennung nach dem Muster "Wenn du nicht zu weinen aufhörst, lasse ich dich allein". Die Kinder würden nach solchen Äußerungen schnell lernen, Bindungsverhalten nicht mehr zu zeigen und nicht mehr zu weinen - der Preis dafür könnten aber psychische Störungen sein Die Unterbringung von Kleinkindern in Kinderkrippen sei unter bindungspsychologischen Aspekten kein Problem, wenn es eine ausreichend lange Eingewöhnungsphase gebe, sagte Brisch. In dieser Phase könne sich das Kind eine Ersatz-Bindungsperson suchen. Drei Tage für eine Eingewöhnung seien aber viel zu kurz. Die Mütter müssten 14 Tage oder drei Wochen mit in die Kinderkrippe gehen und anfangs noch die ganze Zeit dableiben. Auch für die Eingewöhnung von Dreijährigen im Kindergarten müssten rund 14 Tage veranschlagt werden, aber hier liege bei den meisten Kindergärten noch viel im Argen. / / Jede 3. Ehe in Deutschland wird geschieden. Etwa 150 000 Kinder sind jährlich von den Scheidungen ihrer Eltern betroffen. Fast 3 Millionen Menschen ziehen ihr Kind alleine auf. Über 13 Millionen Menschen leben allein
AUS DEM INHALT: / / Danksagung 11 / Vorwort von Lotte Köhler 13 / Vorwort des Autors 18 / Vorwort des Autors zur überarbeiteten und erweiterten Neuauflage 22 / Einleitung 24 / Teil 1 / Die Bindungstheorie und ihre Konzepte / Historischer Überblick 29 / Entwicklung der bindungstheoretischen Konzepte 35 / Grundannahmen der Bindungstheorie 35 / Bindung, Genetik, Neurobiologie und Trauma 41 / Konzept der Feinfiiihligkeit 43 / Konzept der kindlichen Bindungsqualität 49 / Klassifikation der Bindungsqualität des Kindes 51 / Konzept der Bindungsrepräsentation 62 / Bindung zwischen den Generationen und im Verlauf des Lebens 68 / Bedeutung von Schutz- und Risikofaktoren 73 / Bindung und Trennung in anderen psychotherapeutischen Schulen 80 / Teil 2 / Bindungsstörungen / Bindung und Psychopathologie 93 / Bindung und Trauma 95 / Theorie der Bindungsstörung 96 / 8 Inhalt / Bindungsklassifikation in diagnostischen Manualen 99 / Diagnostik und Typologie von Bindungsstörungen 102 / Keine Anzeichen von Bindungsverhalten 102 / Undifferenziertes Bindungsverhalten 103 / Übersteigertes Bindungsverhalten 105 / Gehemmtes Bindungsverhalten 106 / Aggressives Bindungsverhalten 107 / Bindungsverhalten mit Rollenumkehrung 108 / Bindungsstörung mit Suchtverhalten 108 / Psychosomatische Symptomatik 109 / Diagnostisches Vorgehen und Methoden der Bindungsdiagnostik . 112 / Feststellung der Feinfühligkeit in der Eltern-Kind-Interaktion 112 / Einschätzung der Bindungsqualität von Säuglingen / und Kleinstkindern 112 / Diagnostik von Bindungsstörungen 113 / Diagnostik des Bindungsverhaltens im Vorschulalter 113 / Diagnostik des Bindungsverhaltens im Kindergarten - / bis Ende Grundschulalter 114 / Bindungsklassifikation der Bezugspersonen '. 114 / Fragebogeninstrumente in der Bindungsdiagnostik 115 / Teil 3 / Bindungsbasierte Psychotherapie / (attachment-based psychotherapy) / Definition und Abgrenzung 117 / Theorie der bindungsbasierten Psychotherapie 118 / Technik der Behandlung 122 / Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychotherapie von Erwachsenen 122 / Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychotherapie von Kindern / und Jugendlichen 126 / Spezielle Gesichtspunkte 128 / Inhalt 9 / Teil 4 / Behandlungsbeispiele aus der klinischen Praxis / Präkonzeptionelle Bindungsstörung 133 / Der unerfüllte Schwangerschaftswunsch - Bindungsangst / vor dem phantasierten Kind 133 / Prönatale Bindungsstörung 142 / Angst der Schwangeren vor der Lösung der Bindung durch / die bevorstehende Geburt 142 / Schwangerschaftskomplikationen und Risikoschwangerschaft 149 / Pränatale Fehlbildungsdiagnostik 155 / Postpartale Bindungsstörung 162 / Postpartal depressive Mutter 162 / Postpartal psychotische Mutter 168 / Trauma der Frühgeburt 175 / Bindungsstörungen im Kleinkindalter 178 / Keine Anzeichen von Bindungsverhalten 179 / Undifferenziertes Bindungsverhalten 185 / Soziale Promiskuität 185 / Unfall-Risiko-Verhalten 189 / Übersteigertes Bindungsverhalten 191 / Exzessives Klammern 191 / Übermäßige Anpassung 196 / Aggressive Symptomatik 198 / Rollenumkehr 201 / Psychosomatische Symptomatik 204 / Wachstumsretardierung 204 / Eßstörung 208 / Bindungsstörungen im Schulalter 213 / Schulangst 213 / Leistungsverweigerung 219 / Aggressivität 223 / Bindungsstörungen in der Adoleszenz 227 / Suchtsymptomatik 227 / Dissozialität und Delinquenz 233 / Neurodermitis o 239 / 10 Inhalt / Bindungsstörungen bei Erwachsenen 248 / Angst-, Panik- und Agoraphobie-Symptomatik 249 / Depressive Symptomatik 259 / Verstrickte Bindung mit Störung in der Trennungsßhigkeit 259 / Narzißtische Symptomatik 265 / Borderline-Symptomatik 272 / Psychotische Symptomatik 278 / Altersdepression 283 / Zusammenfassende Bemerkungen 288 / Teil 5 / Ausblick auf weitere Anwendungsgebiete / der Bindungstheorie / Prävention 291 / Das Präventionsprogramm "SAFE® - Sichere Ausbildung / für Eltern" 296 / Prävention durch B.A.S.E.® - Babywatching 307 / Familientherapie 309 / Bindung und Gruppen 311 / Gruppenbindungs-Psychopathologie 312 / Gruppenpsychotherapie 312 / Pädagogik 313 / Kritischer Ausblick 314 / Anhang / Fragen des Adult Attachment Interviews 319 / Anmerkungen 325 / Bibliographie 331 / Personenregister 360 / Sachregister 364