"Dies ist die Geschichte eines Mannes, der 87 Kinder moralisch gehen lernen wollte und am Widerstand der Bürokratie scheiterte. Ich habe sie während meiner Arbeit im Kinderdorf Pöttsching erlebt und nicht erfunden. Um die Genauigkeit und Analyse des Erzählten habe ich mich ebenso bemüht wie um seine Lebendigkeit. Alltagssprache war nötig. Nur sie hat die Kraft und die Zartheit, von so einfachen Dingen, wie sie in Pöttsching geschehen sind, trotz aller Komplexität ganz schlicht zu berichten. Die Wissenschaft kann das nicht. Doch da ich von vielen Menschen verstanden werden will, und nicht bloss von einer herrschenden Minderheit, den so genannten Gebildeten, habe ich mich angestrengt, so einfach wie möglich zu schreiben. Traudi, meine Frau, hat dieses Buch ungewollt mitgeschrieben. Ihr verdankt es zugleich die Möglichkeit seines Entstehens. Während ich beinahe vier Jahre an einer Geschichte schrieb, die selbst nur ein halbes Jahr gedauert hat, verdiente sie das für unsere Familie nötige Geld. Jetzt ist das Buch fertig, jetzt haben wir alles erzählt, jetzt bleibt uns nur noch zu hoffen, dass unser Kampf um die Liebe zu den Kindern des Kinderdorfs und zwischen uns beiden für den Leser verständlich geworden ist. Was war geschehen, das mir der Dorfleiter verschwieg? Im Laufe des Schuljahres 1971, an dessen Ende ich Pöttsching kennenlernte, hatten sich im Kinderdorf unter den Erziehern zwei feindliche Lager gebildet. Das ist ein bei Führungsschwäche immer wieder auftretender und von der Sozialpsychologie bereits recht gut untersuchter Mechanismus. Aus der Gegenüberstellung der zwei Gruppen entwickelte sich zuert die Abneigung gegen-, dann der Hass aufeinander. Alles lief mit einer gewissen Notwendigkeit ab. Plötzlich und herkunftslos, so muss es den Pöttschingern vorgekommen sein, war der Hass da. Er riss alle mit. Als sie keinen Ausweg mehr sahen, kam es zum Kampf. Die Entlassung des Erziehers Hans Rulf, dessen ahnungsloser Augenzeuge ich geworden war, bedeutete Ende und Sieg. Die stärkere Erziehergruppe hatte den Dorfleiter, gegen den sich ihre Aggressionen in Wirklichkeit richteten, gezwungen, Hans zu entlassen. Das demütigte den ehrgeizigen Mann. Noch während er die Tränen über den Verlust des "lustigen Kerls" hinunterwürgte, traf ihn der zweite Schlag. Er, der bisher das Kinderdorf alleine geleitet hatte, kriegte plötzlich einen "pädagogischen Leiter", mich, vor die Nase gesetzt. Heute ist mir klar, dass ich dem Kinderdorf hauptsächlich als pädagogisches Beruhigungsmittel gedient hatte. Zwar hatte der Dorfleiter die ihm eigene Scheu am Ende des Gesprächs fast verloren, seine Reserviertheit hatte sich zumindest gemildert, doch sollte ich nach den Vorstellungen seines unmittelbaren Vorgesetzten, Franz Katzenaus, wahrscheinlich nichts anderes als eine pädagogische Putzfrau mit Doktortitel sein. Ich sollte all den psychischen Schmutz, der bei Schmahldienstens Kinderdorfführung entstand, früh genug wegräumen; ich sollte pädagogisch für Ruhe und Ordnung sorgen. Natürlich sprach das niemand aus. Selbst Ernst Schrittmacher, durch den ich auf Pöttsching gekommen war, redete bloss verschämt von "gewissen Schwierigkeiten", ohne mir, aller Wissenschaftlichkeit zum Trotz, die Fakten des vergangenen Machtkampfs zu nennen. Vor den Problemen der Macht hat jeder Angst, und der Intellektuelle erst recht. Die durch die Gruppenbildung damals bewusstgewordenen Aggressionen lösten sich für alle im verzweifelten Gelächter. Als Hans wegging und Karl kündigen wollte, stürmten die Kinder auf den Dorfplatz und hissten eine schwarze Fahne. "Is eh nur a schwarze Unterhosen g`wesen," meinte ein Fünfzehnjähriger ungefähr ein Jahr später zu mir, und bemühte sich, laut zu lachen. Die halbwüchsigen Burschen, die um mich und meine Frau herumsassen, lachten bereitwillig mit. Sie versuchten vergeblich, uns mit ihren Scherzen zu trösten. In Wahrheit war uns allen zum Weinen." Uwe Bolius Uwe Bolius (* 6. August 1940 in Linz) ist ein österreichischer Schriftsteller und Regisseur. Inhalt Hartmut von Hentig: Vorwort 9 Hinweis 11 1. Der Dorfleiter 12 17. Juni 1971, die Landschaft um Pöttsching . . .; Gespräch mit dem Dorfleiter . . .; wissenschaftliche Testergebnisse . ..; Einbruch der Wirklichkeit . . .; Schreibprobleme . . .; Rück- blick: Erzieherkrieg . . . 2. Die sieben Kinderhäuser 26 Schrittmacher stellt mich den Erziehern vor . . .; der Erzieher Karl . ..; Vollversammlung . . . ; die Architektur des Kinder- dorfs . . .; die Beatband . ..; Haus 1 und der Erzieher Fredi . . .; zu neuen Menschen werden . . .; der Erzieherkrieg vom Vorjahr . . .; Rene und die Unendlichkeit . . .; Haus 2 und Karl . . .; erste Begegnung mit den Kindern . . .; Haus 3 . . .; die Freundlichkeit nutzen . . . 3. Erste Demokratisierungsverstiche 67 Erstes Gruppenparlament vom 11. September 1971 . . .; Haus 4 . . .; Information des Dorfleiters . . .; erster Dorf rat vom 12. 9. 71 . . .; Gedanken über den Dorfleiter . . .; Haus 5 . . .; die Demokratisierung des Chors . . .; Haus 6 .. .; Karls Duwort- Aktion . . .; Haus 7 und Onkel Dolf . . .; Individualstatistik über die pädagogische Kontaktfreude der Pöttschinger Erzie- her . . . 4. Letzte Demokratisierungsversuche 101 Die Streitgeschichte mit dem ORF . . .; noch einmal Onkel Norbert...; meine Frau reist ab nach Frankreich . . . ; Grup- penparlament vom 18. 9. 71 .. .; Entdeckung des Führungs- problems . . . ; der zweite Dorfrat - ein Chaos...; DISKUS- SIONSBLATT zur Dorfverfassung . . .; der dritte (und letzte) Dorfrat . ..; Karrierestumpf sinn . . .; erste Konfrontation mit Onkel Norbert . . . 5. Erziehungsbemühungen 136 Traudi erschrickt über meinen Brief...; Ausflug nach Tour- nai - Traudi beginnt zu sehen . . .; Uwes Resignationsgefühle . . .; Studiergruppe Englisch . . .; das französische Schulsy- stem . . .; alleine leben können . . .; Traudis geschärftere Sinne . . .; Persönlichkeitsbriefe . . .; der Meeresbrief . . .; Uwe über Leidenschaft und Homosexualität . . .; Traudi monologisiert . . .; ihr gefällt zum ersten Mal ein Mann . . .; Tagebuchaus- schnitt . . .; Verlassen der Naivität . . .; Uwes Rollenfixierung - die Kritik an Fredi - der Ausbruch von Pius . . .; Gruppen- parlament tot, Erzieherbesprechung vom 29. Oktober 1971 . ..; Konflikt um Hilde . . .; Uwe Erzieher in Haus j . . .; die "Dienste" - und erste Feindseligkeiten; das "Fernsehreste-Be- seitigungsspiel" . . .; Traudi ist niedergeschlagen; Handkes "Mündel will Vormund sein"; Traudi versucht, sich nicht gehen zu lassen . . .; Theres und Helmuth . . .; gute Ratschläge von Traudi . . .; Uwe weint . . .; der Brief Helmuths . . .; die Sache mit Bob . . .; Uwe freut sich über Traudis Emanzipation ...; Heimreisepläne; Bobs negative Antwort - er mag Männer lieber; Traudi sehnt sich nach meinem Körper . . .; Uwe verausgabt und verliebt sich . . . 6. Die Flucht ins Paradies 207 Uwes Erschöpfung . . .; Zusammenbruch von Tante Brunhil- de . . .; Treffen mit Theres - die Flucht ins Paradies . . .; Moralisieren . . .; Sexkonsum . . .; die Angst Onkel Norberts . . .; gruppendynamisches Seminar mit Haus 1 . . .; Abendes- sen zu viert . . .; Sex und Moral . . . Zwischen den Kapiteln 222 Das GÖK-Seminar vom 4. Dezember 1971 7. Der Zusammenbruch 223 Müde Weihnachtstage . ..; Gespräch mit Herrn Schmahl- dienst ergebnislos . . .; der Zusammenbruch beim Maler . . .; Traudis Abfahrt und Umkehr . . .; das Erzieherseminar be- ginnt; Onkel Norbert ist fortschrittlich; Ideenrausch und Abendessen . . .; mein philosophischer Erziehungsbegriff , . .; Dolfs Frontalangriff gegen mich . . .; "Einsicht" und "Ord- nungsdienste" - angstfreie Kommunikation unmöglich . . .; die Schizo-Attacke . . . 8. Die Vertreibung 261 Das Faschingsfest . . .; die Sitzung des "Pädagogischen Bei- rats" vom 24. Januar und mein politischer Erziehungsbegriff . . .; Mini-Gerichtsverhandlung mit Michael, Wolfgang und Pepi . . .; Gedächtnisnotiz von Ulli . . .; Gespräch mit Onkel Norbert im Auto - ich fühle mich im Stich gelassen und er erschrickt . . .; Ausflug auf die Hohe Wand - glückliche Stunden . . .; die Kinder beginnen, sich um mich zu scharen . . .; Totenkopf aus Zigarettenstummeln . . .; Wolfgang und Michael beklagen sich über Onkel Dolf. ..; Fredi greift mich öffentlich an . . .; die Analyse der Hausberichte . . .; Zusam- menstoß mit Dolf . . .; ein Brief an Katzenau - Notruf in letzter Minute . . .; die angebliche Verschwendungssucht der Kinder . . .; die Buben von Haus 5 beklagen sich über Tante Dorothea . . .; öffentlicher Zusammenstoß mit dem Dorfleiter . . .; Hausbesprechung mit Haus 4 . . .; Dolf bespitzelt mich . . .; Onkel Norbert dreht durch . . .; Katzenau ist verärgert . . .; Abschlußfarce im IFES - Uwe Mitglied der ApO? . . . 9. Die Entlarvung 325 Rattenfänger von Hameln . . .; Abschied von den Kindern . . .; Irene will die Wahrheit wissen . . .; Onkel Norbert tobt und holt den Dorfgendarmen von Pöttsching . . .; Karl vertei- digt mich und wir gehen . . . Schluß 333 Dank 335 Anhang 1: Diskussionsblatt zum Thema Dorfverfassung Anhang 2: Tischkärtchen: Rattenfänger von Hameln Anhang 3: Expertise vom 29. 2. 1972 für die GÖK
Verfasser*innenangabe:
Uwe Bolius. Mit einem Vorwort von Hartmut von Hentig
Jahr:
1979
Verlag:
Frankfurt a. M., Suhrkamp
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ISBN:
3-518-10876-X
Beschreibung:
1. Aufl., 359 S.
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Sprache:
Deutsch
Mediengruppe:
Buch