Das historische Buch Narziss liest die Zeichen Anthony Grafton über Astrologie in der Renaissance Was bringt die Zukunft im Jahr 1553? Der junge englische König Edward VI., so weiss der Publizist und Astrologe Girolamo Cardano, habe trotz seiner schwachen Gesundheit eine vorteilhafte Heirat und ein ruhmreiches langes Leben vor sich: So stehe es klar und deutlich in den Sternen. Als die Prognose publiziert wird, ist der König allerdings bereits tot, und der Autor muss seinem Publikum erklären, wieso er das zwar habe prognostizieren können (im Prinzip wenigstens), aber eben nicht schreiben. Er tut das mit einer gewissen Eleganz. Ein Experte für die Zukunft, so Cardano, könne nämlich unter gewissen Umständen seiner Pflicht, seinem Klienten die Wahrheit zu sagen, nicht nachkommen. Trotzdem sei seine Wissenschaft unabdingbar für das Wohl der Menschheit – obwohl sie weder in der Lage sei noch eigentlich anstrebe, es zu sein, spezifische Resultate vorauszusagen. Experten für Volkswirtschaft oder Gentechnik klingen heute gelegentlich ziemlich ähnlich. «Cardanos Cosmos», die Lebensgeschichte des Astrologen Girolamo Cardano aus der Feder des in Princeton lehrenden Historikers Anthony Grafton, lädt zu mehreren solcher Gegenwartsbezüge ein. Kein Wunder, verdankt die moderne Wissenschaft dem italienischen Arzt, Astrologen, Mathematiker und Ingenieur doch einiges: Nicht nur das nach ihm benannte Kardangelenk, sondern auch der citation index (samt den darauf beruhenden Strategien akademischer Selbstvermarktung) und die Beschäftigung mit den mathematischen Grundlagen von Zufall und Würfelspiel gehen auf den Italiener zurück. Er ist der Autor des ersten grossen Werks zur Traumdeutung der Renaissance und nebenbei der Erfinder der Methode, einen Text in Teile zu verschneiden und diese Schnipsel dann zu einem neuen Text zusammenzusetzen – eine Technik, der die Bedienungsmenus unserer Textverarbeitungsprogramme mit ihren Befehlen «cut» und «paste» bis heute Reverenz erweisen. Vom Experten für Wunder . . . Cardanos Ruf unter seinen Zeitgenossen beruhte freilich vor allem auf seiner Tätigkeit als ehrgeiziger Vertreter des «astro-politischen Journalismus», wie Aby Warburg das Genre genannt hat. Cardano machte aus Sammlungen literarisch stilisierter Horoskope berühmter Personen aus Vergangenheit und Gegenwart ein neues und sehr erfolgreiches Genre politischer Gebrauchsliteratur. Gleichzeitig stilisierte er sich selbst zur Kapazität in Medizin, Naturphilosophie und okkulter Prognostik. Die Gesamtausgabe seiner Schriften umfasst zehn Foliobände mit mehr als 7000 Seiten – nicht schlecht für jemanden, der als feste Regel für das Betreiben wissenschaftlicher Astrologie gefordert hatte, niemals die Ergebnisse der eigenen Berechnungen zu veröffentlichen. Das Publikum des 16. Jahrhunderts freilich las jene astrologischen Texte, die uns heute nur als eine Anhäufung unzusammenhängender Behauptungen erscheinen, auf ähnliche Weise wie wir heute Benutzerhandbücher über Computerprogramme, wie Grafton zeigt: als verehrungswürdige High-Tech-Prognostik und als Sammlung wohlüberlegter Hinweise dafür, wie man die undurchschaubare und unbarmherzige Himmelsmaschine dazu bringen konnte, diejenigen Informationen von sich zu geben, die man von ihr verlangte. Es galt, unter allen Umständen die Zeichen für das Unsichtbare zu lesen; und Cardano bewohnte eine Welt, die ununterbrochen in Zeichen zu ihm sprach, nicht nur in Form von Planetenkonstellationen oder Träumen. In seiner Autobiographie beschreibt er eindringlich die unsichtbaren Dämonen, die ihm ständig Gesellschaft leisteten, ihn beschützten, bedrohten, ihm Nachrichten zukommen liessen und, noch schlimmer, mit ihm über theologische Theorien diskutieren wollten. . . . zum Experten als Wunder In dieser Welt konkurrierender und von der Inquisition zunehmend misstrauisch beäugter Zeichendeuter konnte alles zum Prodigium und Vorzeichen werden, einschliesslich der eigenen Person. Cardano war in seinen späteren Lebensjahren davon überzeugt, dass auf seinen eigenen Fingernägeln (modernen Kleindisplays nicht unähnlich) die Zeichen der Zukunft erschienen. Narziss wird im 16. Jahrhundert zum Intellektuellen: Der Jüngling aus dem griechischen Mythos sei nichts anderes als ein Symbol für jene Gelehrten, die sich mit selbstverliebtem Entzücken der Lektüre der eigenen Werke hingäben, erklärte Cardano seinen Lesern. Es ist nicht ohne weiteres herauszufinden, wie ironisch das gemeint war. Zumindest ist es, wie jedes Reden über sich selbst, mehrdeutig – und wie vieles an dem italienischen Multimedientalent kommt es uns deshalb unerwartet vertraut vor. Und tatsächlich: In der Astrologie und Prognostik der Renaissance mit ihren verfeinerten Instrumenten der Interpretation liege eine der wichtigsten Wurzeln moderner Selbstforschung und der Konstitution autobiographischer Subjektivität, schreibt am Ende seines Buches Anthony Grafton, Cardanos spöttischer wie hingebungsvoller Biograph. Die historische Person Cardano hat das, was die moderne Geschichtswissenschaft etwas hochtrabend Ego-Dokumente nennt, buchstäblich in Serie produziert. Cardano wurde nie müde, sich selbst als eitlen, verschrobenen und reizbaren Professor zu beschreiben und gleichzeitig als von der Vorsehung begünstigte ausserordentliche Kapazität, als selbsterklärtes und selbstinterpretierendes Wunder, kurz: als Akademiker. Valentin Groebner -- Neue Zürcher Zeitung
Verfasser*innenangabe:
Anthony Grafton
Jahr:
1999
Verlag:
Berlin, Berlin-Verl.
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ISBN:
3-8270-0168-4
Beschreibung:
414 S. : Ill.
Schlagwörter:
Mathematiker, Astrologie, Cardano, Girolamo, Renaissance, Berühmte Persönlichkeit, Mathematik, Diplommathematiker, Bekannte Persönlichkeit, Prominenter, Prominenz, Reine Mathematik, VIP
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Fußnote:
Aus dem Amerikan. übers.
Mediengruppe:
Buch