Das vorliegende Buch will die Entwicklung von Fähigkeiten befördern, vor allem der Fähigkeit, sich für das Unbekannte in größtmöglicher Offenheit zu interessieren, das sich in jeder neuen psychoanalytischen Begegnung neu ereignet, und ihm durch Bildung von neuen Gedanken denkend nahezukommen. Es hat damit eine andere Zielsetzung, als Texte sie sonst haben. Eine Voraussetzung für das Erkennen unbewußter Prozesse und eine Voraussetzung, um dieses Buch lesen und verstehen zu können, ist die "negative Fähigkeit", das heißt die Fähigkeit, Unsicherheit zu ertragen. Gedanken entstehen als erstes, sagt Bion; das Denken der Gedanken ist etwas zweites. Die Vorläufer der Gedanken aber sind die emotionalen Erfahrungen; ihre unbekannte Gestalt und Eigenschaft gilt es zu entdecken. Sind wir vorschnell mit Namen und Begriffen, mit Denkmodellen und Theorien zur Hand, so nehmen wir der unbekannten emotionalen Erfahrung die Möglichkeit, in uns Gestalt zu gewinnen. - Erika Krejci
Bion gehört zu den Autoren, deren Name in der Psychoanalyse jedem Fachkundigen geläufig ist, deren Bedeutung von niemand in Zweifel gezogen wird, deren Begriffe wie Erkennungssignale in vielen nachfolgenden Untersuchungen zirkulieren, deren Werke im Literaturverzeichnis selten fehlen - auch wenn ihre Bücher nur von wenigen wirklich gelesen werden. Das mag daran liegen, daß Bion mit unerhöhrter Konzentration und Konsequenz schreibt und sich dadurch jeder schnellen Aneignung verweigert: Lernen durch Erfahrung ist zuerst 1961 in England erschienen.
Unter dem Druck seiner psychoanalytischen Praxis, insbesondere der Arbeit mit psychotischen Patienten, sieht sich Bion genötigt, Fragen zu untersuchen, die eher in den Bereich der philosophischen Erkenntnistheorie zu gehören scheinen: Was heißt Denken? Was ist psychische Realität? Was heißt es, einen Gedanken zu denken, Erfahrungen zu machen, Wissen zu vermehren? Bion hat keine Scheu davor, die vertraute psychoanalytische Terminologie zu verlassen und "kantische" Fragen zu stellen, auch wenn seine Antworten für Kantianer paradox klingen müssen. Er macht sich, kurz gesagt, daran, zu zeigen, wie in der frühesten Kommunikation zwischen Säugling und Mutter aus "Dingen an sich" Erscheinungen, das heißt Gegenstände menschlicher Erfahrung, werden. Und er riskiert es, als Notationssystem für die psychoanalytische Erfahrung die Fregesche Begriffsschrift zu verwenden.
Als Ausgangspunkt stützt sich Bion auf den von Melanie Klein entwickelten Begriff der "projektiven Identifikation" als Urform menschlicher Kommunikation. Was bedeutet es, wenn ein Säugling Hunger verspürt, die Brust der Mutter aber auf sich warten läßt? Bion schreibt dem Kind einen angeborenen minimalen psychischen Apparat zu, der Unlust und Frustration wahrnehmen kann. Das kind nimmt sein Bedürfnis nach Milch aber nicht als Mangel einer ersehnten, benötigten Brust wahr, sondern als Anwesenheit einer schlechten Brust. Die Abwesenheit hat also gewissermaßen dingliche Präsenz (in der Sprache Bions handelt es sich um ein Beta-Element). Das Kind versucht, auf dem Wege der projektiven Identifikation diese Unlustgefühle loszuwerden, indem es sie "in die Mutter entleert". Ist es in ausreichendem Kontakt mit der Realität, kann es dieser Omnipotenzphantasie dadurch Gehalt geben, daß es die Mutter als "Behälter" veranlaßt, die unbekömmlichen Empfindungen zu "verdauen", und diese Elemente als bearbeitete, gute Objekte reintrojizieren. Gelingt dies - vermag die Mutter die projektive Identifizierung als Kommunikation zu begreifen und ihr eine Bedeutung zuzuordnen -, stellt sich beim Kindeine emotionale Erfahrung ein.
Solche Eindrücke (etwa akustische, visuelle oder Geruchseindrücke) sind die einfachsten Elemente (in der Sprache Bions: Alpha-Elemente), denen psychische Qualität zukommt; gleichwohl sind sie erst das Ergebnis einer gelingenden Interaktion mit der Mutter. Erst durch diese Interaktion wird die "Alpha-Funktion" der kindlichen Person in den Stand versetzt, die Beta-Elemente - mit ihrem paradoxen Status protomentaler Gedanken, eines "Dings an sich", eine nichtsymbolisierten Realen - in jene Alpha-Elemente zu verwandeln, die als Material für unbewußtes und bewußtes Denken benutzt und gespeichert werden können.
Erfahrung und Begriffsbildung setzen somit das Zusammentreffen angeborener Schemata (Erwartungen, "Prä-Konzeptionen") mit geeigneten Sinneseindrücken ("Realisierungen") voraus, die jene Schemata erfüllen. Dieser Mechanismus liefert Bion ein Modell für alle spätere Denktätigkeit einschließlich des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts. Wahrheit entsteht aus der Begegnung einer Erwartung mit der Antwort einer Realisierung und ist durchtränkt von Mangel und Leid, da sie ihren Ausgang nimmt von der Erfahrung eines abwesenden Objekts. Von hier ausgehend entwickelt Bion außerdem ein neues Modell des psychischen Apparats, das sich vom Freudschen "Reflexbogenmodell" signifikant unterscheidet.
Lernen durch Erfahrung lädt den Leser - wie Erika Krejci in ihrem Vorwort schreibt - "nicht zu einer Wanderung durch freundlich-reizvolle Landschaften ein ... vielmehr zu einer Exkursion in uerforschte und unwegsame Regionen der Seele ... Wundere Dich also nicht, wenn Du alle Deine Erfahrungen und alle Deine Kräfte brauchst, um Entbehrungen zu ertragen und dem Anprall des Neuen aus dem Bereich vor der Konturierung der Welt durch die Sprache standzuhalten."
Verfasser*innenangabe:
Wilfred R. Bion. Übers. und eingeleitet durch Erika Krejci
Jahr:
2009
Verlag:
Frankfurt am Main, Suhrkamp
Aufsätze:
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Systematik:
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PI.HPE
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ISBN:
978-3-518-28621-0
2. ISBN:
3-518-28621-8
Beschreibung:
1. Aufl., 5. [Dr.], 171 S.
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Sprache:
Deutsch
Originaltitel:
Learning from experience <dt.>
Mediengruppe:
Buch