Die Bildpostkarten des Wilhelminismus ließen schon die trüben Umrisse Adolf Hitlers ahnen: Von Rolf Schneider --- Eines von mehreren deprimierenden Jubileen im laufenden Kalenderjahr ist der 70. Jahrestag des Weltkriegsbeginns von 1914. Über Ursachen, Anlässe, Schuld ist seither ausführlichst gemutmaßt und geurteilt worden. Als gewiß darf gelten, daß alle fünf europäischen Großmächte gleichermaßen zum großen Kräftemessen drängten; ebenso sicher ist, daß Kaiser Wilhelms Deutschland zuletzt der Hauptstörenfried war, während Österreich-Ungarn die schließlichen, die entscheidenden Schritte tat. Die beteiligten Völker jubelten orgiastisch. Der anbrechende Untergang wurde als offenbare Erlösung empfunden. Als die Waffen sprachen, da sprachen, im Stile der Waffen, die Dichter mit. Der Vorgang gehört zum Unappetitlichsten in der europäischen Geistesgeschichte; beteiligt waren große Geister wie mindere Reimer; eine rührende Minderheit blieben, die dem patriotischen – Geheul ihrer Völker widerstanden. In unserem Sprachraum hießen sie zum Beispiel Heinrich Mann, René Schickele, Karl Kraus, Alfred Polgar sowie, nach kurzer militaristischer Verwirrung, Stefan Zweig, Hermann Hesse und Fritz von Unruh.
Wer sich die Liste der am Kriegsereignis so oder so literarisch Beteiligten besieht, erlebt sonderbare Überraschungen. Carl Sternheim, bissiger Satiriker der preußischen Lebensart, plädierte 1914 für Haß und Blutrausch. Der junge Carl Zuckmayer erlebte den Krieg als „Wollust“. Stefan George hingegen, dem Soldatisch-Männerbündischen eigentlich literarisch attachiert, hielt sich zurück. Sensibilisten wie Rilke und Hofmannsthal dagegen ballten lyrisch die Faust oder bejubelten die Rüstung. Je minderer Rang und poetisches Vermögen, desto schneidiger wurde gedichtet. Besonders bravouröse Haßgesänge gibt es von Schaukai, Binding und Denmel, von Wildgans, Bahr und dem Lehär-Librettisten Löhner. Einer reimte sich förmlich in den Zeitruhm: Ernst Lissauer, der Gott-strafe-England-Lyriker, Verfasser des Gedicht-Bandes „Der Heilige Krieg“. Zwanzig Jahre später wurde er von den Nazis geächtet, denn er war Jude. Nicht anders als Alfred Kerr, der 1914 Churchills England poetisch schmähte – „Hunde dringen ein ins Haus –/ Peitscht sie raus!“ –, um zwei Jahrzehnte hernach in eben diesem England politisches Asyl zu finden. „Man drängte sich dazu, andere für das Vaterland sterben zu lassen, während man selbst Protektion suchte, um im Hinterland Stimmung für den Krieg zu machen“, vermerkt Hans Weigel in einer zum traurigen Jubelfest erschienenen Sammlung. Wer die von Hans Weigel zusammengetragenen belletristischen Zitate liest, in einzelnen Fällen den Kontext nachschlägt, aus dem sie stammen, der muß sich vor allem über das miserable Niveau der Kriegsenthusiasten wundern. Offenbar webt so etwas wie heimliche Kausalität zwischen Moral und Leistung. Selbst renommierte Autoren wie Thomas Mann und Gerhart Hauptmann begeben sich weit unter ihre intellektuellen und formalen Möglichkeiten, wenn sie ihr Scherflein tun auf den Altar des kämpfenden Vaterlands. Natürlich waren sie auch dann immer noch Leute von Anspruch; ihre Adressaten blieben die Generalstäbler und Reserveleutnants. Den Patriotismus des gemeinen Mannes zu befeuern, gab es andere Urheber, auch andere Mittel; ein bisher wenig beachtetes und untersuchtes, wiewohl es weit verbreitet war und deswegen von hoher kultursoziologischer Bedeutung, es wird hier erstmals eingehend gewürdigt: die vaterländische Kitschpostkarte. Die Postkarte ist eine Erfindung des preußischen General-Postmeisters Heinrich von Stephan aus dem Jahre 1865. 1869 wurde sie offiziell eingeführt, als Bildpostkarte politischen Inhalts erlebte sie ihre erste Konjunktur während des Krieges von 1870/71. Fortan blieb das Medium populär. Zu seiner Herstellung dienten sämtliche damals gebräuchlichen Reproduktionstechniken vom Holzstich bis zur Photographie, die Gestaltungsmittel reichen vom gemütvollen Nach-Biedermeier über den pathetischen Stil à la Piloti bis zur (meistens seichten) Karikatur. Die Bildpostkarte wurde ein beliebtes Kommunikationsmittel der niederen Stände und schwenkte, konjunkturabhängig, konjunktursüchtig, im Jahre 1914 sofort auf das neue Thema Krieg ein. Es sind schreckliche Dinge zu sehen. Winkend geht ein bewaffneter deutscher Rekrut am gekreuzigten, blutenden Heiland vorüber, Unterschrift: „Mit Gott für Kaiser u. Reich“. Ein dicklicher preußischer Rekrut hält einen kleinen weißen Hund im Arm: „Na – ich bin doch kein Barbar“. Unter dem Titel „Rekruten-Transport“ fliegt ein Klapperstorch Körbe mit strotzenden Säuglingen durch die Luft, die Reichsflagge flattert voran. Ein verwundeter Krieger im Schützengraben wird vom Reichsadler belohnt, der ihm vom Brandenburger Tor das Eiserne Kreuz herbeischafft. Noch fürchterlicher werden die Dinge, wenn es statt um innere Ertüchtigung um die Mobilisation von Haß geht. Da inseriert in imitierter Anzeige das „Feuerbestattungsunternehmen Krupp u. Skoda“. Die Karikaturen des Ruß, dem jeder Schuß gilt, gleichen aufs Haar den bolschewistischen Untermenschen-Karikaturen nach 1941. Die Zeichnungen montenegrinischer Potentaten nehmen Karikaturen aus dem „Stürmer“ vorweg. Ein Zeitgenosse, der Prager Journalist Willy Haas, hat früh erkannt: durch die Bildpostkarten des Wilhelminismus ahne man schon „die trüben Umrisse Adolf Hitlers“. Auf einer anderen Karte rollen zwei Bäcker aus den Mittelmächten lauter kleine hysterische Entente-Männlein mit dem Nudelholz zu Teigstreifen. Hier ist Auschwitz nahe. Hitlers Drittes Reich wurde im 1. Weltkrieg gezeugt.