Jean Hatzfeld hat 14 Überlebende der Massaker im April/Mai 1994 in Ruanda interviewt. Die Berichte geben tiefe Einblicke in die Traumatisierungen und die Bewältigungsstrategien der Überlebenden. Zusammen mit den informativen Berichten Jean Hatzfelds über die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe zeichnet dieses Buch ein eindringliches Bild des Völkermordes, der bis heute nicht aufgearbeitet ist. Inhalt: Es geschah 1994, zwischen Montag, dem 11. April, 11 Uhr, und Samstag, dem14. Mai, 14 Uhr: Rund 50.000 der etwa 59.000 Menschen zählenden Tutsi-Bevölkerung wurden auf den Hügeln der Gemeinde Nyamata in Ruanda mit der Machete abgeschlachtet – von Milizleuten und ihren Hutu-Nachbarn, tagtäglich von 9.30 bis 16 Uhr. Das ist der Ausgangspunkt dieses Buches. Einige Tage zuvor, am 6. April 1994, war das Flugzeug des Präsidenten der Republik beim Landeanflug auf die Hauptstadt explodiert. Dieses Attentat hat die vorbereitete Ermordung der Tutsi-Bevölkerung ausgelöst: Sie beginnt in der Hauptstadt und dehnt sich dann auf das ganze Land aus. In Nyamata, einem Marktflecken in Bugesera, dem Land der Hügel und Sümpfe, beginnt das Morden vier Tage später. Nur wenige Tutsis überleben die Massaker. Der Journalist Jean Hatzfeld hat Nyamata besucht und vorsichtig das Vertrauen einiger Überlebender gewonnen. Sie brechen ihm gegenüber ihr Schweigen und erzählen in einfacher fast poetischer Sprache, was ihnen widerfahren ist. Diese Berichte von Kindern, Frauen und Männern sind ergreifend und erreichen mit ihrer authentischen Kraft eine allgemeingültige Dimension. Ausgezeichnet mit dem Preis »France Culture 2000« und dem »Prix Pierre Mille«.Rezension:Der Mann, der dem Völkermord ins Auge sah Jean Hatzfeld bringt die Überlebenden von Ruanda zum Sprechen. Eine BegegnungVon Gregor DotzauerEin kleiner Mann. Schmal, ja mager und ein bisschen schief aufgehängt, was mit der schweren Beinverletzung zu tun hat, die er sich vor zwölf Jahren in Sarajewo eingehandelt hat. Er könnte immer noch zu denen gehören, die das Grauen in Zeitungsspalten abfüllen, irgendwo zwischen Sierra Leone und Tschetschenien. Denn was soll das heißen, dass Jean Hatzfeld, ganz Intelligenz und Berührbarkeit, heute womöglich ein anderer ist, wo er doch vor allem mit den Texten, die er für seine Zeitung, die französische „Libération", als Berichterstatter schrieb, an die Grenzen des Mediums gestoßen war. Was weiß man schon über die Dabeigebliebenen, außer dass sie reichlich zwielichtige Gestalten sein können: Karrieristen und Desperados. Stille Bewunderer der Barbarei, die ihre Faszination mit hemmungslosem Moralismus aufwiegen, ahnungslos Neugierige. Oder auch nur Leute, die vor sich selbst weglaufen und ihre tägliche Dosis Davongekommensein brauchen, um sich lebendig zu fühlen. Und wieviel erfährt man von einem Menschen, dem man gerade eine Stunde lang begegnet, weil er in die Stadt gekommen ist, um in der sozialdemokratischen Parteizentrale sein erstes Buch in deutscher Übersetzung vorzustellen.„Ich war zwanzig Jahre lang Kriegsreporter“, erklärt Jean Hatzfeld, „und der Krieg hat mich vieles gelehrt. Ich sage es, ohne mich zu genieren: Das Universum des Kriegsjournalisten ist ein Universum, das ich mag. Nicht weil ich den Krieg oder die damit verbundene Erregung mag. Ich finde nur, dass man sich im Krieg leichter nahe kommt. Die Leute reden anders, sie sind vielleicht ehrlicher als sonst. Ich habe viele Freunde verloren, die starben oder abgeschlachtet wurden. Und doch habe ich in Sarajewo oder in Beirut neben vielen unglücklichen Momenten auch einige sehr glückliche erlebt. Ja: Ich habe durch den Krieg Dinge erlebt, die ich sonst nicht erlebt hätte. Ich habe Freundschaften geschlossen, die ich anders nie geschlossen hätte. Ich habe Dinge geschrieben, die ich sonst nie geschrieben hätte.“ Und dann sagt er: „Ruanda aber ist etwas anderes. In Ruanda gab es für mich keinen einzigen glücklichen Moment.“Trotzdem darf man sich Hatzfeld nicht als unglückliche Seele vorstellen. Man kann ihn sogar fragen, was das für ihn ist, das Glück. Und er wird „Ah, le bonheur“ sagen, eine belustigte Pause einlegen und gestehen: „Ich bin eigentlich ein ganz glücklicher Mensch.“ Und nach einer zweiten Pause erklären: „Was mir am meisten Freude bereitet, sind Menschen, meine Freunde, Begegnungen. Meine beiden Bücher über den Völkermord in Ruanda haben mich nicht daran gehindert, regelmäßig zum Fußball zu gehen und in gute Restaurants. Das sind einfach verschiedene Welten. C'est ça.“ Man sollte allerdings auch nicht so tun, als hätte das Massaker der Hutu an den Tutsi im Jahre 1994 nicht auch bei ihm seinen Tribut gefordert. Fast eine Million Menschen wurden in 13 Wochen planmäßig mit der Machete abgestochen und zerstückelt, von morgens früh um neun bis nachmittags um kurz nach vier. Danach kollektives Besäufnis der Mörder und Feste bis tief in die Nacht.„Was einen besessen machen kann, ist nicht die Grausamkeit, mit der 900000 Menschen abgeschlachtet wurden“, sagt Hatzfeld. „Es hat ähnlich mörderische Kriege gegeben. Es ist die Idee der Auslöschung. Die Hutu hätten die Tutsi jagen können, sie unterwerfen, ihnen ihre Grundstücke nehmen – all das, was man in einem normalen Krieg macht. Aber sie wollten alle töten. Diese Vorstellung der völligen Auslöschung, ohne Ausnahme, es gibt nicht eine Mutter, die den Säugling ihrer Nachbarin retten wollte, keinen aus einer Fußballmannschaft, der seinen Mittelstürmer schützen wollte, keinen Sänger, der jemanden aus seinem Kirchenchor retten wollte – das ist unbegreiflich.“ Da ist es, das schwierige Wort vom Verstehen, das vielleicht genau die Obsession ausmacht, von der Hatzfeld nichts wissen will, weil sie so sehr nach Krankheit klingt oder nach einer Metaphysik, die auch nicht weiterhilft: „Die Journalisten, die in Ruanda waren, teilen sich in zwei Gruppen auf: in die Besessenen und die, die nichts mehr davon hören wollen. So ging es mir anfangs mit einem Fotografen. Er hat die Arbeit für mich mit den Worten abgelehnt: ’Ich bin mit dem absolut Bösen in Berührung gekommen.’“ So kam Hatzfelds Freund, der berühmte Fotograf Raymond Depardon dazu, die Interviewpartner zu porträtieren. In Hatzfelds Büchern über Ruanda – im Original sind „Le Nu de la vie“ und „Une saison des machettes“ bei den renommierten Editions du Seuil erschienen – sprechen die Überlebenden aus der Gemeinde Nyamata. Hatzfeld hat sie, vier Jahre, nachdem er das Massaker als Journalist begleitet hatte, unter Mühen zum Sprechen gebracht und ihre Aussagen um Erzählpassagen ergänzt. „Der Überlebende eines Bürgerkriegs will Zeugnis ablegen“, sagt Hatzfeld. „Er geht auf Journalisten zu, er will anklagen und Rache fordern oder auch nur weinen. Der Überlebende eines Völkermords will davon nichts wissen. Fast jedes Mal spielte es sich auf die gleiche Weise ab. Ich traf Überlebende, sie redeten eine Dreiviertelstunde, dann hörten sie einfach auf und verfielen ins Schweigen.“Im ersten Band mit dem Titel „Nur das nackte Leben“ (aus dem Französischen von Karl-Udo Bigott, Verlag Haland & Wirth, Gießen 2004, 251 S., 19,90 €) sammelt er Zeugnisse von 14 überlebenden Tutsi, im zweiten, das im Herbst auf Deutsch erscheint, spricht er mit Hutu-Tätern. „Die Schlächter bedauern, dass ihr Leben zerbrochen ist und dass sie im Gefängnis sitzen. Worte des Bedauerns für die Opfer finden sie nicht. Man sieht nichts in ihren Augen wie bei den amerikanischen Vietnamrückkehrern oder den Franzosen, die in Algerien waren. All das waren Kriege mit gegnerischen Parteien. Es gab Angst und Hass, in Ruanda war es nur eine Schlächterei. Wenn die Täter dem Geschehenen ins Auge sehen könnten, würden sie auf der Stelle verrückt. In Ex-Jugoslawien sind die Schlächter Extremisten geworden, Alkoholiker oder mindestens Zyniker. In Ruanda sind sie nach Hause gegangen und haben sich wieder an ihre Arbeit begeben.“ Wieso Hatzfeld, 1949 als Sohn jüdischer Emigranten in Madagaskar, das alles macht, ist kein Geheimnis. „Ich tue es für mich“, sagt er, der immer alles für sich gemacht hat: sein Leben on the road als junger Mann im Orient, seinen Flirt mit dem Maoismus, sein Schreiben über Sport. Es ist nicht die Wahrheit, nicht die Gerechtigkeit, nicht ein Volk, in dessen Dienst er sich stellen will. „Viele Leute bedanken sich bei mir, was ich für die Erinnerung getan habe, aber ich glaube nicht daran. Ich habe das erste Buch nur geschrieben, weil ich glaubte, dass es interessant werden könnte. Ich glaube nicht einmal, dass es dazu beitragen wird, einen anderen Völkermord zu verhindern – gewiss nicht. Wissen Sie, was mir Jeannette erzählt hat? Ich glaube nicht denen, hat sie mir erklärt, die sagen, wir hätten ein für allemal den Tiefpunkt der Abscheulichkeiten erreicht. Hat es einen Völkermord gegeben, kann ein weiterer folgen, irgendwann, irgendwo. Solange die Menschen zu so etwas fähig sind und man den Grund ihres Handelns nicht kennt. Und Jean-Baptiste hat den schönen Satz gesagt, dass alles, was sich in Ruanda abgespielt habe, auf übernatürlichen Gründen in natürlichen Personen beruhe. Glaubt er also doch an das Böse? Nein, sagt Hatzfeld, o nein. „An einem bestimmten Punkt in einer bestimmten historischen Konstellation, in Polen oder in Kambodscha, können Menschen sich in Monster verwandeln. Sie stürzen in die Barbarei, und nichts schützt sie: weder Kultur noch Religion, egal, ob sie Philosophen sind, Dichter oder glaubensstarke Menschen.“ Warum es sich lohnt, die von Hatzfeld bewunderten Bücher von Primo Levi über die Welt der Konzentrationslager zu lesen, erklärt sich bei der Lektüre von selbst. Die Lektüre von Hatzfelds Büchern muss man zum Teil erst gegen den körperlichen Widerstand durchsetzen, den die Schilderung der Schrecknisse bewirkt. Auch dem Übersetzer hat sich der Magen immer wieder umgedreht. So wenig das mit Therapie für den Autor oder den Leser zu tun hat, die Hatzfeld ablehnt, so viel hat es neben der menschlichen Kraft, die in diesen Büchern steckt, mit historischer Erkenntnis zu tun, bei der das Tatsächliche und das schier Unglaubliche unmittelbar miteinander konkurrieren. „Es war wie bei den Juden“, sagt Hatzfeld. „Sie haben es einfach nicht geglaubt. Das Erste, was die Hutu mit den Tutsi-Frauen und Kindern machten, war, sie in eine Kirche zu sperren. In einer Kirche hatte noch nie jemand gewagt, Menschen umzubringen.“ Aus: Tagesspiegel, 07.05.2004