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Kontroverse am Abgrund: Ernst Robert Curtius und Karl Mannheim

Intelektuelle und "freischwebende Intelligenz" in der Weimarer Republik
Verfasser*in: Suche nach Verfasser*in Hoeges, Dirk
Verfasser*innenangabe: Dirk Hoeges
Jahr: 1994
Verlag: Frankfurt, Fischer Taschenbuch-Verl.
Mediengruppe: Buch
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Inhalt

Ende der zwanziger Jahre kam es zwischen dem Romanisten Ernst Robert Curtius und dem Wissenssoziologen Karl Mannheim zu einer heftigen Kontroverse über die Aufgaben der Sozial- und Geisteswissenschaften. Sie verschärfte sich rasch zu einer wissenschaftspolitischen Auseinandersetzung, die, direkt oder indirekt, in den Schriften anderer bedeutender Wissenschaftler nachhallte oder fortschwelte. Diese Debatte wird jetzt zum erstenmal systematisch dargestellt, in ihren Motiven und Folgen beschrieben. Der Literaturwissenschaftler Dirk Hoeges analysiert die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen, die sich in dem Wortgefecht der beiden Gelehrten spiegelten, und macht sie noch einmal in ihrer ganzen Brisanz und Widersprüchlichkeit lebendig: Wissenschaftsgeschichte als Geschichte vergeudeter oder verwirkter intellektueller Hoffnungen. Neue Zürcher ZeitungAm Abgrund?Eine Studie über die Curtius-Mannheim-DebatteVon Joseph JurtDer Romanist Ernst Robert Curtius galt in den zwanziger Jahren als «Modernist». Er stand mit Gide, Charles Du Bos und Valéry Larbaud in Briefkontakt. Die Innovation Prousts hatte er schon vor dem Abschluss der «Recherche» erkannt. Er berichtete in seinen Literaturkritiken schon früh über James Joyce, über die französischen Surrealisten. Es erstaunt, dass ein so aufgeschlossener Geist zwischen 1929 und 1932 eine äusserst heftige Kontroverse gegen den Soziologen Karl Mannheim führen konnte. Diese wichtige Debatte war bisher noch nicht systematisch dargestellt worden. Der hier vorliegenden Studie von Dirk Hoeges kommt so ein unbestreitbares Verdienst zu, dies um so mehr, als auf Grund von Nachforschungen in Universitätsarchiven und durch Befragung von Zeitzeugen eine ganze Reihe von Einzelheiten geklärt werden konnte.Beschrieben werden zunächst Gemeinsamkeiten und Parallelen zwischen den beiden Protagonisten: etwa die gemeinsame Bewunderung für den Soziologen Georg Simmel sowie die Beziehungen beider zu Lukács, den Mannheim schon im Budapester Sonntagskreis kennengelernt hatte. Mannheim war auf Grund der Lektüre Max Webers 1920 nach Heidelberg gekommen. Curtius kehrte 1924 als Inhaber des Lehrstuhls für Romanische Philologie dorthin zurück. Max Weber stand er aber distanziert gegenüber. Hoeges situiert den impliziten Beginn der Auseinandersetzung zwischen Curtius und Mannheim in der heute weithin unbekannten Schrift «Der Syndikalismus der Geistesarbeiter in Frankreich» von 1921, in der Curtius schon die Intellektuellenfrage aufgriff, die später im Zentrum der Überlegungen von Mannheim stehen sollte. Er bezog sich auf die Kreise um die Zeitschrift «Le Producteur», die sich auf reaktionäre Denker wie Maurras («L'avenir de l'intelligence») und Valois, aber auch auf einen Neo-Saint-Simonismus beriefen, der Intellektuelle und industrielle Unternehmer im Zeichen der schöpferischen Arbeit einen wollte.Die dominante Kategorie Mannheims war indes nicht die des «Geistesarbeiters», sondern das Konzept der «freischwebenden Intelligenz», das er in seiner Heidelberger Habilitationsschrift «Altkonservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens» (1925) entwickelte. Es ging darum, an einem konkreten Beispiel die «Seinsgebundenheit allen Denkens und Erkennens» aufzuzeigen. Mannheim belegte dies am Beispiel von Adam Müller als einem wichtigen Repräsentanten des Altkonservatismus. Dessen Opportunismus, den etwa ein Carl Schmitt kritisiert hatte, wurde aus seiner Situation als «freischwebende Intelligenz» gedeutet. Die nicht in einer bestimmten Klasse verankerte Intelligenz verhelfe der herrschenden Macht zu einer Theorie, wozu diese selber nicht imstande sei. Für Curtius war Adam Müller indes, wie Hoeges betont, ein Gewährsmann für den «deutschen Geist». Für ihn waren Tradition und Kontinuität substantielle Inhalte und nicht bloss Übersetzung der Interessen einer sozialen Schicht.Nachdem er nach Bonn berufen worden war – und Mannheim nach Frankfurt –, griff Curtius Mannheim 1929 im Gefolge der Veröffentlichung von «Ideologie und Utopie» in einer Besprechung in Max Rychners «Neuer Schweizer Rundschau» massiv an. Hoeges sieht den Ursprung der Kontroverse auch vor dem Hintergrund der langjährigen Koexistenz und Konkurrenz in Heidelberg. Wenn Curtius auf Mannheims jüdische Herkunft anspielte und die «deutsche akademische Jugend» verbal gegen ihn mobilisierte, dann war das im Kontext der wachsenden Fremdenfeindlichkeit keineswegs ein unschuldiger Akt. Es ging indes nicht bloss um Personen; es war auch ein Konflikt zweier Disziplinen um das Deutungsmonopol. Bezeichnend war etwa Curtius' Vorwurf, mit der Wissenssoziologie blähe sich eine Einzelwissenschaft zur Universalwissenschaft auf.Für Mannheim stellte die Krise Nachkriegseuropas eine Chance dar; für Curtius bedeutete die Wissenssoziologie indes eine zusätzliche Gefährdung der Gegenwart. Mannheim hatte indes die Gebundenheit der Erkenntnis an eine bestimmte historische Konstellation bewusst als «Relationismus» bezeichnet, um seine Position gegenüber dem Relativismus der ethischen Indifferenz abzugrenzen. Curtius praktizierte den Relationismus, wie Hoeges betont, in seinen Proust- und Ortega-Interpretationen selber, ohne ihn jedoch auf sein eigenes Denken anzuwenden. Der Vorwurf des «Soziologismus» war eine handgreifliche Waffe, um den Substantialismus zu verteidigen.Die Angriffe gegen den «Soziologismus» wurden in Curtius' Schrift «Deutscher Geist in Gefahr» 1932 noch einmal aufgenommen. Der Autor wandte sich gegen die Diskreditierung der Vernunft durch den nationalistischen Tat-Kreis, den er als Nihilismus von rechts wahrnahm; in Mannheims Enthüllungssoziologie vermutete er gleichzeitig einen programmatischen Nihilismus von links. Curtius wandte sich nach 1932 völlig von der modernen Literatur ab und widmete sich während fast zweier Jahrzehnte seinem monumentalen Werk «Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter», in dem er noch einmal seine These der Kontinuität des Zeitlosen zu belegen versuchte – dies nach Hoeges ebenfalls eine Antwort auf Mannheims «Ideologie und Utopie».Dirk Hoeges hat sehr genau eine wichtige Debatte der Zwischenkriegszeit nachgezeichnet; er bezieht aber auch die Auseinandersetzungen von Curtius mit Walter Benjamin, Thomas Mann und Carl Schmitt mit ein. Es zeichnet sich so ein lebendiges Bild der intellektuellen Landschaft der Weimarer Republik ab. Wenn der Faktenreichtum der Darstellung überzeugt, so ist man weniger glücklich mit der dramatisierenden oder bisweilen manierierten Diktion. Fragwürdig ist aber auch die Wertung der Debatten als «mörderisches Spiel», als «Kontroversen am Abgrund», die die Gewalt hoffähig machten. Dass intellektuelle Kontroversen ausgetragen werden, ist Zeichen einer offenen freiheitlichen Gesellschaft. Es besteht, und bestand, keine Pflicht zum Konsens.

Details

Verfasser*in: Suche nach Verfasser*in Hoeges, Dirk
Verfasser*innenangabe: Dirk Hoeges
Jahr: 1994
Verlag: Frankfurt, Fischer Taschenbuch-Verl.
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Systematik: Suche nach dieser Systematik PI.GR
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ISBN: 3-596-10967-1
Beschreibung: 270 S.
Schlagwörter: Curtius, Ernst Robert, Mannheim, Karl, Philosophie, Soziologie, Deutschland, Geschichte 1918-1933, Intellektueller, Politische Kultur, Weimarer Republik, Allgemeine Soziologie, Gesellschaft / Theorie, Gesellschaftslehre <Soziologie>, Gesellschaftstheorie, Philosophieren, Soziallehre <Soziologie>, Sozialtheorie
Beteiligte Personen: Suche nach dieser Beteiligten Person Curtius, Ernst Robert; Mannheim, Karl
Mediengruppe: Buch