Erstmals liegt die erfolgreichste Veröffentlichung des 1933 in die Niederlande emigrierten Erziehungswissenschaftlers Carl Mennicke indeutscher Sprache vor. Die interdisziplinär verfahrende Analyse massenpsychologischer Phänomene ist nach wie vor vonbeeindruckender Aktualität. Die niederländische Ausgabe erlebte von 1935 bis 1954 vier Auflagen, in deren unterschiedlichen Fassungen sich Zeitgeschichte widerspiegelt. Diese Einflüsse werden in der vorliegenden Ausgabe nachvollziehbar gemacht. Der Autor geht von seiner eigenen Wahrnehmung massenpsychologischer Phänomene während des 1. Weltkrieges und im deutschen Faschismus aus. Er erhellt die Ursachen menschlicher Verführbarkeit, indem er ihre sozialgeschichtliche Bedingtheit analysiert und Erklärungsmuster verschiedener psychologischer Schulen auf ihre Brauchbarkeit überprüft. Im unerfüllten Bedürfnis nach Sicherheitund Akzeptanz sieht Mennicke die zentrale Voraussetzung, die Menschen aggressiv und manipulierbar werden läßt. Ansatzweisewerden pädagogische und politische Gegenstrategien benannt, die im Folgeband Sozialpädagogik systematisch entfaltet werden. Die klarsichtige Darstellung der Beweggründe fremdbestimmten, irrationalen Verhaltens kann nach wie vor historische und aktuelleProblemlagen verstehen helfen. August Carl Mennicke (* 5. September 1887 in Elberfeld; † 15. November 1958 in Frankfurt am Main) war ein einflussreicher deutscher Sozialpädagoge und religiöser Sozialist. Zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft ging er in die Emigration in die Niederlande. Werke von ihm wurden anlässlich der Bücherverbrennung in Frankfurt am Main verbrannt. Im Jahr 1934 wurde ihm in Deutschland die akademische Lehrbefugnis entzogen. In Amersfoort war er Leiter der Internationalen Schule für Philosophie (International School voor Wijsbegeerte). Dies war eine einzigartige Einrichtung für Erwachsene, die auf hohem Niveau philosophisch orientierte Kurse anbot.[7] Er beschäftigte sich weiter intensiv mit sozialpädagogischen Fragen. Er veröffentlichte 1937 einen Entwurf der Sozialpädagogik. Dieses Werk gilt teilweise als erste sozialtheoretische Grundlegung einer Sozialpädagogik.[8] Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in den Niederlanden wurde er verhaftet. Mennicke kam zunächst in das Arbeitslager Wuhlheide. Nach einer schweren Erkrankung wurde er ins Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert. Nach zwei Jahren Haft wurde er entlassen. Er blieb unter polizeilicher Arbeit und lebte als Metallarbeiter. Nach dem Krieg ging er zunächst nach Amersfoort zurück. Später ging er wieder nach Frankfurt, wo er bis 1952 als Honorarprofessor für Soziologie an der Universität lehrte. 1958 erhielt er das Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland. Kurz vor seinem Tod wurde er mit der Goetheplakette der Stadt Frankfurt ausgezeichnet. Er ist Ehrenbürger der Stadt Wuppertal.
Inhaltsverzeichnis
Editorische Vorbemerkung 9
Vorwort zur ersten Auflage 13
Vorwort zur zweiten Auflage 15
Vorwort zur dritten Auflage 16
Vorwort zur vierten Auflage 18
Einleitung 21
Erster Teil:
Allgemeine Grundlagen
I Die Betrachtungsweise der Individual- und der Sozialpsychologie 31
II Die wichtigsten sozialpsychologischen Grunderscheinungen im Zusammenhang mit den wichtigsten sozialpsychologischen Grundbegriffen 35
1. Die gesellschaftlichen Gruppen im sozialpsychologischen Sinn des Wortes 35
2. Der sozialpsychologische Charakter der durch die Tradition gebundenen Gruppe 36
3. Die Situation einer Gesellschaft, in der die Gebundenheit
durch die Tradition loser geworden ist 38
4. Die abstrakte und die konkrete Masse 41
5. Die Menge 45
6. Führung und Führer als sozialpsychologische Erscheinungen 47
III £ Die theoretischen Einsichten und Mittel, mit denen diese Erscheinungen begriffen und erklärt werden können 49
1. Das Zusammenspiel der Triebe und der Instinkte bei Tieren 49
2. Die immer schwächer werdende Rolle des Instinkts beim Menschen infolge der Entwicklung des Intellekts 50
3. Die Rolle, die die Triebe weiterhin spielen 51
4. Die wichtigsten individuellen und sozialen Antriebe, die im menschlichen Zusammenleben wirksam sind 53
5. Das Wertebewußtsein in seinem spezifisch menschlichen Charakter 56
6. Die charakteristischen Formen der Befriedigung des menschlichen Triebsystems in der durch die Tradition gebundenen Gesellschaft 58
7. Die Problematik der Triebbefriedigung in den nicht durch Tradition gebundenen Gesellschaften 65
a. Der individualistische Zeitabschnitt 65
b. Der neue Zustand 68
c. Die wichtigsten gesetzmäßigen Erscheinungen, die sich
beim Funktionieren des Massenbewußtseins hervorheben 69
d. Die Rolle des Führers bei der Befriedigung der individuellen und sozialen Triebe 75
e. Sensation und Suggestion 81
f. Symbole und Symbolbegriffe 85
Zweiter Teil:
Die Anwendung der sozialpsychologischen Einsichten auf die verschiedenen Bereiche und Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens
I Die Sozialpsychologie der Großstadtbevölkerung 95
1. Atomisierung und Massenbildung 100
2. Empfänglichkeit für Reize und Blasiertheit 102
3. Egalisierung und Sensation 103
4. Vergnügungsindustrie und Freizeitgestaltung 106
II 6 Die Sozialpsychologie der Landbevölkerung 109
1. Die Ursache der vorherrschenden Bedeutung der traditionellen Gebundenheit auf dem Land 109
2. Ökonomische, technische und organisatorische Veränderungen der agrarischen Produktion in der modernen Zeit 111
3. Die eigentümliche sozialpsychologische Situation der Bauernbevölkerung in der gegenwärtigen Zeit 113
4. Politische Folgen 115
III Die Sozialpsychologie der Mittelstandsgruppen 118
1. Die Handels- und Büroangestellten 119
2. Die Handwerker und Kleinhändler 121
3. Die selbständigen Industriellen und Kaufleute 123
4. Die Intellektuellen 125
5. Die Mittelstands-¿Bewegung" 128
IV Die Sozialpsychologie des Proletariats 130
1. Das Proletariat als abstrakte Masse 130
2. Die Bildung zur konkreten Masse 131
3. Die Rolle des Marxismus bei diesem Bildungsprozeß 134
4. Der Mangel des Marxismus in sozialpsychologischer Hinsicht 136
5. Möglichkeiten und Notwendigkeiten der zukünftigen Entwicklung 139
V Die sozialpsychologische Situation der Jugend in der modernen Gesellschaft und die Sozialpsychologie der Jugendbewegung 142
VI Die Bedeutung der psychologischen Typologie für das Verständnis der sozialpsychologischen Erscheinungen 148
1. Beschreibung der zwei psychologischen Grundtypen 148
2. Die sozialpsychologische Bedeutung der psychologischen Grundtypen, geprüft an der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung 150
3. Die Anwendung dieser Betrachtungsweise auf die Entwicklung der deutschen politischen Verhältnisse nach dem Ersten Weltkrieg 157
Die Sozialpsychologie des Nationalbewußtseins 159
1. Die sozialpsychologischen Wurzeln des Nationalbewußtseins 159
2. Die Bedeutung der historischen Schicksale eines Volkes für die Bildung des Nationalbewußtseins 163
3. Charakteristische Unterschiede des Nationalbewußtseins: Niederlande, Schweden, Deutschland, Italien, England, Frankreich 165
VIII Der Krieg als sozialpsychologisches Problem 174
1. Die Ursachenfrage 174
2. Die Tätigkeit der Triebe und Affekte 176
3. Die Einflußmittel 181
Schluß 184
Epilog zur vierten Auflage 188
Anmerkungen der Herausgeberin 193