Die Vermutung liegt nahe, dass eine der Aufklärung verpflichtete Wissenschaft und Therapie wie die Psychoanalyse in einer Diktatur kaum möglich ist. Trotzdem gab es in verschiedenen autoritären und totalitären Regimen psychoanalytische Tätigkeiten. War das in jedem Fall noch Psychoanalyse? Wo lagen die Grenzen zur Abschaffung bzw. zur Selbstaufgabe?
Die Psychoanalyse mit ihrer Konzentration auf das Individuum und ihrer deutenden Gesprächskultur steht im Gegensatz zum den Einzelnen unterdrückenden Wesen einer Diktatur. Trotzdem hat sie sich weltweit auch in verschiedenen Regimen erhalten, wenn auch unter Bedingungen, die sich von denen psychoanalytischer Arbeit in Demokratien grundlegend unterscheiden. Wie dies möglich war und welche verschiedenen Formen dieses "Überleben" annahm, zeigen die Beiträge dieses Bandes anhand von Beispielen aus Deutschland und Österreich nach der NSMachtübernahme, aus dem von Nationalsozialisten besetzten Norwegen und Belgien, in der kommunistischen Sowjetunion und in autoritären Regimen in Brasilien und Italien.
Der Herausgeber: Mitchell G. Ash, Dr., unterrichtete von 1984-1997 Geschichte an der University of Iowa, Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin (1990-1991); Gastprofessuren in Göttingen, Wien und Jerusalem; ist seit 1997 ordentlicher Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Wien; von 2002-2007 Präsident der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte.
Inhalt
Danksagung 7
Christine Diercks
Vorwort 9
I. Allgemeine Problemeinführungen
Mitchell G. Ash
Psychoanalyse unter nicht-demokratischen Herrschaftsverhältnissen
Einführende Bemerkungen 12
Geoffrey Cocks
"Rechts um die Ecke rum": Wichmannstraße, Berggasse, Keithstraße, 1933 - 1945 35
Elisabeth Brainin
Träumen in der NS-Zeit 58
II. Das Ende der Psychoanalyse in Wien 1938? - Neue Forschungen
Christiane Rothländer
"Arisierung", Beschlagnahmung und Verbleib des Eigentums der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung 1938 72
Birgit Johler
Zur Praxis August Aichhorns 1938- 1944
Entwurf eines "Soziogramms" auf Grundlage seiner Patientenkalender 96
III. Psychoanalyse und Diktaturen: Faschismus und Nationalsozialismus
Jacqueline Amati Mehler
Psychoanalyse und Faschismus in Italien 129
Michael Schröter
"Wir leben doch sehr auf einer Insel..."
Psychoanalyse in Berlin 1933-1936 152
IV. Unter nationalsozialistischer Besatzung
Susann Heenen-Wolff
Psychoanalyse und Besatzungsregime in Belgien 166
Hàvard Friis Nilsen
Widerstand in der Therapie und im Krieg 1933 - 1945
Die Psychoanalyse vor und während der Besatzung Norwegens durch die Nationalsozialisten 176
V. Unter Diktaturen im östlichen Europa und Lateinamerika
Igor M. Kadyrov
Psychoanalyse in der UdSSR und in Russland nach dem Ende der Sowjetunion 211
Hans Füchtner
Psychoanalyse und autoritäre Herrschaft in Brasilien 235
VI. Die Folgen in Wien nach 1945
Thomas Aichhorn
Blicke zurück und nach vorne
Aus der Korrespondenz August Aichhorn - Anna Freud nach 1945 249
Samy Teicher/Elisabeth Brainin
Psychoanalyse nach der Nazizeit
Die Wiener Psychoanalytische Vereinigung und ihr Umgang mit dem Nationalsozialismus nach 1945 274
VII. Ausblick
Werner Bohleber
Psychoanalyse, Diktatur, Professionalität - Implikationen
Die Auswirkungen des Nationalsozialismus auf die Psychoanalyse in der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 293
Daphne Stock
Psychoanalyse und demokratisches Bewusstsein 316
Liste der AbbiIdungen 331
Die Autorinnen und Autoren des Bandes 332
Namensverzeichnis 339