Eine Kulturgeschichte des westdeutschen 'Psychobooms' der 1970er Jahre zwischen Verwissenschaftlichung des Sozialen und Politisierung des Selbst im Zeichen der 68er.
Um 1970 setzte in der Bundesrepublik eine Welle der Popularisierung von psychologischem Wissen und psychotherapeutischen Praktiken ein. Wissenschaftliche wie populäre Sachbücher zu den Themen Psychologie, Psychoanalyse und Psychotherapie kamen in immer größerer Zahl und Auflage auf den Markt, Hunderttausende nahmen an Therapie- und Selbsterfahrungsgruppen teil.
Maik Tändler rekonstruiert die komplexen wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Entstehungsbedingungen und die gesellschaftliche Dynamik dieses 'Psychobooms'. Dabei zeigt sich, dass dieser weder auf randständige Psychosekten noch auf eine entpolitisierte 'neue Innerlichkeit' reduziert werden kann. Es handelte sich vielmehr um eine übergreifende gesellschaftliche Entwicklung, die entscheidend von den gesellschaftspolitischen Verheißungen der 68er-Jahre vorangetrieben wurde: Die rasante Verbreitung psychologisch-therapeutischer Praktiken in den 1970er Jahren erklärt sich vor allem daraus, dass sie als demokratisierende und emanzipatorische Selbsttechnologien verstanden wurden. Doch während die therapeutischen Utopien zum Ende des Jahrzehnts versiegten, bereitete der Psychoboom langfristig den Boden für die Ausbreitung therapeutischer Selbstoptimierungstechniken im Zeichen einer immer weiter voranschreitenden Ökonomisierung des Selbst.
Inhalt
Einleitung: Die siebziger Jahre als therapeutisches Jahrzehnt............... 9
Der Psychoboom als geschichtswissenschaftliches Forschungsthema (9)
Zeitgeschichtlicher Forschungsstand: Die siebziger Jahre zwischen
gesellschaftspolitischem Aufbruch, Krisenstimmung und Neuer Subjektivität (18) Therapeutisierung, Subjektivierung, emotionale Regime: wissenschaftsgeschichtlicher Kontext und theoretische Grund
lagen (27) Quellenauswahl und Aufbau d er Arbeit (40)
T E I L l: V E R W I S S E N S C H A F T L I C H U N G D E S S E L B S T
1 Rivalisierende Verwissenschaftlichungen:
Psychowissenschaften in Deutschland bis 1 9 4 5 ..................................47
1.1 Psychiatrie, Psychoanalyse und Psychotherapie (48) 1.2 Psychologie (54)
2 Therapeutisierung zwischen Modernisierung
und Humanisierung: Die Psychowissenschaften und der
gesellschaftliche Wandel nach 1945 ........................................................ 67
2.1 Internationale Entwicklungen im kursorischen Vergleich (67)
2.2 Modernisieren und Heilen: die (Re-)Institutionalisierung der
Psychoanalyse in der Bundesrepublik in den fünfziger und sechziger
Jahren (72) 2.3 Die Anerkennung des verletzlichen Individuums:
Psychiatriekritik und Psychiatriereform (77) 2.4 Therapeutisierung
als gesellschaftliches Reformprojekt: Aufstieg und Ausweitung der Psychotherapie ab Ende der sechziger Jahre (86) Fazit (93)
3 Vom Nischenfach zur therapeutischen Leitwissenschaft:
Die Entwicklung der Psychologie zwischen den fünfziger
und siebziger Jahren .......................................................................................95
3.1 Die deutsche Universitätspsychologie zwischen charakterologischem
Sonderweg, Methodenstreit und operationalistischer Wende (95)
3.2 Sittlichkeit und Selektion: Angewandte Psychologie in den fünfziger Jahren (99) 3.3 Modernisierung, Steuerungsutopien und die Angst
vor den »geheimen Verführern«: Die gesellschaftliche Wahrnehmung
der Psychologie in den sechziger Jahren (104) 3.4 Die Bildungsexpansion und der Ansturm auf das Psychologiestudium (111) 3.5 Unfrei
williger Wandel: Die Therapeutisierung der Psychologie in den Siebzigerjahren (118) Fazit (135)
Helfen und Befreien: Psychologie als »progressive« Wissenschaft
in den siebziger Jahren .................................................................... 137
4.1 Exkurs: Die ambivalente »Feminität« psychologischen Wissens
und psychotherapeutischer Praxis (137) 4.2 Progressive Psychologen,
soziales Engagement und emanzipatorische Therapie (147) 4.3 Zwischen »Expertentum des Betroffenseins« und Selbstverwissenschaftlichung: Die Selbsthilfebewegung (158) 4.4 Popularisierung und
Postmaterialismus: Die Psychologie als Wissenschaft von der »Selbstverwirklichung« (166) 4.5 Zwischen Therapiekritik, Politisierung und
Entpolitisierung: Dynamiken des Psychobooms im Übergang von den
siebziger zu den achtziger Jahren (177) Fazit (185)
T E IL II: BEFR EIU N G DES SELBST
5 Psychoanalyse, »Vergangenheitsbewältigung« und die »Wendung
aufs Subjekt« in den sechziger Jahren ............................................ 189
5.1 Mitscherlich, Schelsky, Riesman und der intellektuelle Abschied
von der Massenpsychologie (189) 5.2 Politische Psychologie, politisierende Psychologen und die NS-Vergangenheit (196) 5.3 Die Unfähigkeit zu trauern als Demokratisierungshindernis: Konturen und Wirkung eines Kollektivpsychogramms (203) Fazit (214)
6 Die Neue Linke, der Freudomarxismus und die Politisierung
der Subjektivität.............................................................................. 216
6.1 Repression, Neue Sensibilität und das psychologische Problem der
Autorität: Die Frankfurter Schule als Stichwortgeber des studentischen
Protests (217) 6.2 Der »Prophet des Orgasmus«: Wilhelm Reich und
die theoretischen Schwierigkeiten mit der sexuellen Revolution (227)
6.3 Die Wiederkehr des autoritären Charakters und die Angst vor
einem neuen Faschismus (235) 6.4 Der »subjektive Faktor« und die
Utopie vom neuen Menschen (240) Fazit (247)
7 Psychopolitische Laboratorien: Kommunen, Kinderläden und die
therapeutische Befreiung des Selbst um 1 9 6 8 .................................. 249
7 .1 Sich selbst ändern, um die Gesellschaft zu ändern: Praxissehnsucht
und Kommune-Debatte im SD S (249) 7.2 Den Charakterpanzer
durchbrechen: Die Ur-Kommunen als psychopolitische Gemeinschaften (254) 7.3 Eskalationen im kollektiven Alltag zwischen Politisierung, Psychologisierung und Zwang zur Zwanglosigkeit (262)
7.4 »Selbstregulierung«: Die antiautoritären Kinderläden und die generationelle Delegation der psychischen Selbstbefreiung (270) Fazit (280)
8 Therapeutische Impulse: (Selbst-)Pathologisierungsprozesse in der
Studentenbewegung und im linken Milieu der siebziger Jahre 282
8.1 Unterdrückte Sexualität, universitäre Lebenswelt und die neue Sag-barkeit psychischen Leids (282) 8.2 Angst und Autorität in der antiautoritären Bewegung (295) 8.3 Linke Gruppentherapien: Günter
Ammon, Josef Rattner und die Pathologisierung des Normalen (301)
8.4 Rückbesinnung aufs Subjekt: Die Frankfurter Emanzipationstagung von 1973 (314) Fazit (321)
9 Somatisierung, Emotionalisierung, Orientalisierung:
Facetten des post-psychoanalytischen Psychobooms ................... 322
9.1 Therapie als Lebensform: Die Aktions-Analytische Organisation
(AAO) (322) 9.2 Vom »unterdrückten Trieb« zum »unterdrückten
Selbst«: Die Gefühlstherapien der Humanistischen Psychologie (331)
9.3 A u f der Suche nach »östlicher Spiritualität«: Bhagwan und die Orientalisierung der Therapie (349) Ausblick (358)
T E I L III: D E M O K R A T I S I E R U N G D E S S E L B S T
1 0 Selbst-Demokratisierung: die Gruppendynamik in der
Bundesrepublik.............................. ......................................................... 363
10 .1 Friedrich Minssen, Kurt Lewin und die »Self-re-education« (363)
10.2 Experiment in Schliersee: Das erste gruppendynamische Laboratorium Deutschlands (371) 10.3 »Auf dem Wege in die Zukunft«:
Aufschwung und gesellschaftspolitische Programmatik der Gruppendynamik seit Ende der sechziger Jahre (378) 10.4 Die »Dynamik des
Heiligen Geistes«: Gruppendynamik und christliche Kirchen (383)
10.5 Wahrnehmung, Kritik und Verbreitung der Gruppendynamik (391)
Fazit (399)
1 1 Die gruppendynamischen Seminare der Hessischen Landeszentrale
f ür politische Bildung: eine Fallstudie zur Eigendynamik und den
Aporien »emanzipatorischer« Selbsterfahrung.................................. 401
1 1 .1 Die Institutionalisierung der Gruppendynamik im Rahmen der
hessischen Bildungsreformen (401) 11.2 Widersprüchliche Normen
und widerspenstige Subjekte: Die Realität der gruppendynamischen
»Fundamentaldemokratisierung« (413) 11.3 »Selbsterfahrung« und »Beziehungsarbeit«: Die Therapeutisierungsdynamik der Gruppendynamik (419) Fazit (429)
12 Von der Gruppendynamik zum Coaching: Ein Ausblick auf die
langfristigen Entwicklungslinien der therapeutischen Selbstführung
ökonomisierter S u b je k t e ....................................................................... 431
12 .1 Vom Sensitivity-Training zur Organisationsentwicklung : Pragmatische Anpassung im Übergang von den siebziger zu den achtziger Jahren (431) 12 .2 Das Assessment-Center: Selbstinszenierung, Selbstoptimierung und die Wiederauferstehung der Charakterologie (435)
12.3 Coaching: »Therapie für Normale« unter ökonomischen Auspizien (442)
Schlussbetrachtung:
Der Psychoboom und seine Folgen ....448
Dank ....455
Abkürzungsverzeichnis ....457
Quellen- und Literatu rverzeich n is ....458
Archive (458) Periodika (458) Filme (458) Publizierte Quellen und
Forschungsliteratur (459)
Personenregister 500