Die Selbstmorddebatte im 18. Jahrhundert und die physische, psychische, soziale und politische Neukonzeption des Menschen. Im Laufe des 18.Jahrhunderts beginnen sich unterschiedliche Wahrnehmungsparadigmen des Selbstmords zu überlagern und einander abzulösen. Diese Entwicklung zeigt Harald Neumeyer anhand medizinischer Traktate, juristischer wie polizeiwissenschaftlicher Abhandlungen, theologischer Studien, psychologischer Fallanalysen, gerichtsmedizinischer Gutachten, populärer Biographien und literarischer Texte. Selbstmord kann danach als Verletzung des irdischen wie göttlichen Souveräns, als Verbrechen am Staat, als Effekt einer Anomalie und als Resultat eines Normenkonflikts bewertet werden. Zugleich verbindet sich die gesamtkulturelle Erörterung des Selbstmords mit dem Projekt einer neuen Definition, Vermessung und Berechnung des Individuums. So werden divergierende Formen von Autonomie entfaltet, die letztlich auf eine Unterwerfung wie Disziplinierung des Menschen zielen, wird die Grenze zwischen Normalität und Anomalie stets neu ausgelotet und der Bereich eines Unbewussten als Motor von Handlungen veranschlagt. Im Zentrum der Studie stehen Johann Wolfgang Goethes »Die Leiden des jungen Werther«, Friedrich Schillers »Die Räuber« und Clemens Brentanos »Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl«
/ AUS DEM INHALT: / / /
I. Wirkkraft des Unbewussten 9
1. Wissenschaft: Der Kindermörder J. F. D. Seybell, ein >seiner selbst unbewußter Mensch< 9
2. Literatur: Transformationen des Selbstmords.
Von der Bühne in den Off-Stage - vom Off-Stage auf die Bühne 20
3. Wissenschaft und Literatur:
Melancholisch onanierende Werther-Leser 32
4. Methode und Erkenntnisinteresse: Wissensgeschichte des Selbstmords 39
II. Figuren der Autonomie 51
1. Wahrnehmungsparadigmen der Selbsttötung I: Autonomer Akt versus sündhaftes Vergehen 51
2. Wahrnehmungsparadigmen der Selbsttötung II: Individuelles Recht versus biopolitischer Verstoß 61
3. Literatur: Sophonisbes »Freyheits-Saft« und Catos »Fehler« 73
4. Theologie, Medizin und Pädagogik: >Subtiler Selbstmorde
Oder: Von der Onanie als Selbstmord auf Raten 86
5. Medizin und Psychologie: Melancholie
oder: Anomalien produzieren Anomalien 105
6. Jurisprudenz und Polizeiwissenschaft: Von der Angst der Macht vor der Macht des Selbstmörders . 122
7. Philosophie: Determination als Legitimationsstrategie . . . . 141
III. Die Leiden des jungen Werthers (1774) 151
1. Jerusalems Selbstmord, Kestners Briefbericht und Goethes autobiographische Retrospektive: Plausibilisierungsversuche 151
2. Werthers Briefe I: Die Fixierung des zu regulierenden Regulators auf seine Therapeutin . . . . 164
3. Das Gespräch in den Briefen: Von der »Krankheit zum Todte« 170
4. Werthers Briefe II: Ver-kehrte Reflexion auf die Trias der Pflichten 180
5. »Der Herausgeber an den Leser« und der Abschiedsbrief an Lotte: Vier Werther 188
IV. Religiöses Strafgericht 207
1. Werther theologisch: »Todtes Capital« statt »Heroismus« . 207
2. Eine Frage der Macht: Der Selbstmörder als »Rebell wider den Herrn des Lebens und des Todes« . . 218
3. Stigmatisierung statt Ursachenforschung: »Ein Unchrist, ein Unmensch, ein Unthier« 227
4. Hinrichtungstexte und Disziplinierungsbriefe: »Zittert!« - »Hören Sie zuletzt noch meinen brüderlichen Rath« 236
V. Die Räuber (1781) 253
1. Karl und Franz: Die Gewalt des »Schoßkindes« und die Gewalt des »kalten« Sohnes . . . 253
2. Karl: Autonomie als Negation des autonomen Akts der Selbsttötung 267
3. Franz: Die Ambivalenzen der Pathologisierung 278
4. Amalia und Karl: Delegierter Selbstmord und selbstverordnete Hinrichtung 292
VI. Zwischen Selbsterhaltungstrieb und »Trieb zum Selbstmord« 301
1. Natur-Norm-Normalität:
Die Zwei-Trieb-Theorie in Medizin und Psychologie . . . . 301
2. Vom »Kampf« im Ich: Anton Reiser und Frau H.L 314
3. Vom Straf system zum Disziplinarsystem:
Wie der Selbstmörder »gegen sich selbst bewahret« wird . . 326
VII. Macht der Norm 343
1. Programmatik der Fallstudien und Biographien: Innensichten und »philosophische Toleranz« 343
2. Selbstmörder sprechen: Rechtfertigungen 354
3. Die Instanz des Gewissens: Selbsttötung als radikale Form einer selbstreflexiv vollzogenen >Sub-Justiz< 363
4. Auswertung der Datensätze: Zurechtmachungen und Projektionen 374
5. Biographien über Selbstmörder: Die zwei konkurrierenden Wahrnehmungsparadigmen . . . 386
VIII. Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl (1817) 401
1. Zwischen Norm und Anomalie I: Kasperls Selbstmord . . 401
2. Zwischen Norm und Anomalie II: Annerls Kindsmord . . 417
3. Die letzten Worte zweier Selbstmörder: »Meine Schande« 436
4. Verzweiflung oder Melancholie: Die Problematik der Zurechnungsfähigkeit 446
5. Politische Souveränität: Das »ehrliche Grab« und das »Monument« 454
Literaturverzeichnis 465