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Der Golem der Forschung

wie unsere Wissenschaft die Natur erfindet
Verfasser*in: Suche nach Verfasser*in Collins, Harry M.; Pinch, Trevor J.
Verfasser*innenangabe: Harry Collins ; Trevor Pinch
Jahr: 1999
Verlag: Berlin, Berlin-Verl.
Mediengruppe: Buch
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Inhalt

Neue Zürcher Zeitung Technik und Wissenschaft – entmythologisiertZwei Studien von Harry Collins und Trevor PinchDass Macht und Wissen, Interesse und Wahrheit nicht fein säuberlich trennbar sind, hat nicht erst die Soziologie des Wissens gezeigt. Seit Nietzsches Erkenntniskritik besteht begründeter Verdacht, dass Ansprüche auf Wahrheit und letzte Gewissheit verdeckte Machtansprüche darstellen. Auch wenn man Nietzsche in der Allgemeinheit, mit der er seine Verdächtigungen vorträgt, nicht folgen mag, so hat er doch an einem idealisierten Bild der Wissenschaft gekratzt, das bis heute weiter gepflegt wird – zum Schaden der Wissenschaft, wie die Soziologen Harry Collins und Trevor Pinch in ihrem Buch «Der Golem der Forschung» meinen. Denn wer etwas verklärt, ist besonders herben Enttäuschungen ausgesetzt, wenn die von der Idealisierung abweichenden Tatsachen ans Licht kommen.So geschah es auch der verklärten Naturwissenschaft: Weil sie für interesselose Wahrheitssuche, für den sicheren Weg in letzte Gewissheit gehalten wurde, mussten diejenigen, die sich in dieses Idealbild verliebt hatten, sie verdammen, sobald sie sahen, dass auch die Naturwissenschaft missbraucht werden kann und für Irrtum anfällig ist. Deshalb wird «Naturwissenschaft . . . meist für entweder ganz und gar gut oder ganz und gar böse gehalten. (. . .) Sie gleicht jedoch», schreiben Collins und Pinch, «weder dem tapferen Ritter noch dem wütenden Unhold. Sie ist ein Golem.»Golem der ForschungDer Golem ist eine mythische Gestalt des osteuropäischen Judentums. Ein etwas beschränkter Koloss, stark, von Menschen geschaffen, doch ihnen auch gefährlich, wenn er nicht als Diener richtig geführt wird. Mit dem mythischen Bild des Golem wollen die Autoren dem gegenwärtigen Wissenschaftsverständnis mythische Vorstellungen austreiben.Trevor und Pinch zeigen durch Analyse wissenschaftlicher Entdeckungen und Irrtümer, dass die Wissenschaft weder notwendig ins Paradies von Wahrheit und Gewissheit noch in den Untergang des Abendlandes führt. Sie tun dies, indem sie das gesellschaftliche Milieu untersuchen, in dem Forschungen unternommen werden und Überzeugungen entstehen. Ihre Hauptstrategie ist dabei, zu zeigen, dass das Milieu, in dem so erfolgreiche Theorien wie Einsteins Lehre von der Gravitation entstehen, sich nicht prinzipiell von dem Umfeld unterscheidet, in dem heute vergessene Irrtümer wachsen. Wahres und falsches Wissen wird von ihnen «symmetrisch» behandelt. Damit wollen sie nicht an den gegenwärtig leitenden Überzeugungen rühren, sondern nachweisen, dass es vor allem gesellschaftliche Umstände in der Gemeinschaft der Forschenden und nicht die wissenschaftlichen Methoden allein sind, die einer Einsicht zum Durchbruch verhelfen.«Die Leute, für die Enterprise und Star Trek ebenso gültig sind wie die spezielle Relativitätstheorie, haben nicht die falsche Physik, sondern sie missverstehen die Art, wie die Gesellschaft organisiert ist. Falls sie sich überhaupt vergegenwärtigen, dass man, um über das Funktionieren der physischen Welt Bescheid zu wissen, zuerst Erfahrung von ihr braucht, so wissen sie nicht, welcher gesellschaftliche Ort die richtige Art der Erfahrung vermittelt.» Um diesen «richtigen Ort» zu kennen, bedarf es jedoch sozialer Urteilskraft.Genau die wollen Collins und Pinch mit ihren Fallstudien stärken. Über wissenschaftliche Erkenntnis ist sowohl hinsichtlich Wahrheit wie praktischer Relevanz sozial zu urteilen. Es ist nicht die einzelne Wissenschafterin, die das letzte Wort darüber hat, ob eine ihrer Erkenntnisse zu einer allgemeinen Überzeugung und damit handlungsleitend werden soll oder nicht, ob ein Befund etwa in einem Gerichtsprozess entscheidet. Die Irrtums- und Interessenanfälligkeit von Wissenschaft macht es nötig, dass auch die, die sie nicht betreiben, sich urteilend zu ihr verhalten müssen. Wer nur anbetet oder verdammt, zeigt jedoch keine Urteilskraft.Die minuziösen und wissenschaftshistorisch interessanten Rekonstruktionen zur Relativitätstheorie, zu der «kalten Kernfusion» oder dem «Liebesleben der Rennechsen» machen deutlich, dass die an einem Forschungsprozess Beteiligten nie absolut sicher sein können, wie er ausgehen wird. Die scientific community ist nicht von sozialer Urteilskraft unabhängig, sie ist kein von experimentellen oder mathematischen Methoden zielgenau gesteuerter Automatismus, der zur Wahrheit führte. Weil menschliches Handeln «das Herz der Wissenschaft» ist, ist Wissenschaft – wie alles Handeln – auch von praktischer Klugheit abhängig, die nicht methodisch fixiert werden kann.Die Bedeutung der Praxis in der Wissenschaft zeigt sich vor allem an mehrdeutigen Experimenten. Ob ein experimenteller Nachweis (beispielsweise bei der Suche nach Gravitationsstrahlung) als gelungen angesehen wird oder nicht, hängt davon ab, ob die im Experiment realisierte Praxis als exemplarisch akzeptiert wird. Wird sie es nicht, gilt das Experiment als misslungen und bleibt theoretisch irrelevant. Doch nach welchen Kriterien wird über die Güte einer experimentellen Praxis entschieden, wenn es sich um einen Versuch mit Blick auf eine neue Theorie handelt?Golem der Technologie?Die Mehrdeutigkeit experimenteller Praxis findet eine Parallele in der Technologie, der Collins und Pinch eine zweite «Golem»-Studie gewidmet haben. Es mag erstaunen, dass es praktisch unentscheidbar ist, ob die Patriot-Raketen im Golfkrieg erfolgreich Husseins Scud-Raketen abgefangen haben oder nicht; oder ob das «Challenger»-Unglück auf einen voraussehbar bei Frost auftretenden Materialfehler an einer Treibstoffdichtung zurückgeführt werden kann oder nicht. Doch die Uneindeutigkeit von Empirie überhaupt gilt eben nicht nur für das Experiment, sondern auch für die Beobachtung der Technologie. Ohne die Frage, wer unter welchen Bedingungen einen technischen Prozess mit welcher Absicht beobachtet und von seiner Beobachtung berichtet hat, ist es völlig sinnlos, von «empirischen Daten» in der Technik zu sprechen. Das gilt ganz offensichtlich für sogenannte Fakten über Geräte, die in Kriegshandlungen eingesetzt werden, aber eben nicht nur für sie.Die soziologische Kontextualisierung von Wissenschaft und Technologie, die Collins und Pinch vornehmen, ist also keine Dekonstruktion unserer Wahrheiten, wie sie neuerdings in der Soziologie des Wissens so beliebt ist. Diese (de)konstruktivistischen Bemühungen tun ja so, als könnte man sich von Überzeugungen beliebig distanzieren. Vielmehr geht es um die soziologische Beförderung eines aufgeklärten Wissenschafts- und Technikverständnisses, das die Urteilskraft gegenüber der Naturwissenschaft stärken und aus mythischer Wissenschaftsgläubigkeit und -verdammung heraushelfen soll.Dabei gilt für die beiden Autoren, dass Wissenschaft und Technik auf Grund der Uneindeutigkeit jeder Empirie auch nicht füreinander garantieren können: Sichere Theorien machen keine sichere Technik, und erfolgreiche Technik belegt nicht die Gewissheit einer Theorie: «Die Technologie kann sowenig für die Wissenschaft bürgen wie die Wissenschaft für die Technologie.» Wer das nicht glaubt, will Wissenschaft und Technik aus den «soziologisch schmutzigen» Umständen menschlichen Handelns heraushalten – ein illusionäres Vorhaben in den Augen der Autoren.Wenn Collins und Pinch grundsätzlich auch kaum über das, was seit Quine und Thomas Kuhn philosophisch diskutiert wird, hinausgehen, so sind ihre Bücher, die jetzt auf deutsch vorliegen, doch wegen ihres Reichtums an detaillierten Fallstudien im angloamerikanischen Sprachraum bereits zu Recht stark beachtet worden.(Michael Hampe ; Quelle: amazon.de)

Details

Verfasser*in: Suche nach Verfasser*in Collins, Harry M.; Pinch, Trevor J.
Verfasser*innenangabe: Harry Collins ; Trevor Pinch
Jahr: 1999
Verlag: Berlin, Berlin-Verl.
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Systematik: Suche nach dieser Systematik NN.AV
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ISBN: 3-8270-0334-2
Beschreibung: 239 S. : Ill., graph. Darst.
Schlagwörter: Forschung, Geschichte 1900-1992, Naturwissenschaften, Forschungen, Naturforschung, Naturlehre, Naturwissenschaft, Wissenschaftliche Forschung
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Originaltitel: The Golem
Fußnote: Aus dem Amerikan. übers.
Mediengruppe: Buch