07/2022 – POLITIKEN DES NARRATIVEN – VON ALESSANDRO BARBERI, THOMAS BALLHAUSEN UND BIANCA BURGER
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EDITORIAL: Mit dem aktuellen Schwerpunkt haben wir Begriff und Bedeutung von Politik ganz vorsätzlich im Plural angesetzt und mit dem nicht weniger umstrittenen oder vielfältigen Term des Narrativen verbunden. Für uns stand dabei die produktive Auseinandersetzung im Sinne von Bewusstmachung, etwa auch hinsichtlich der historischen Dimensionen und aktuellen Verknüpfungen beider Titelteile, im Vordergrund. Es überrascht nicht, dass bei der Beschäftigung mit Politik und Narrativ just Momente der Auseinandersetzung mit benennbarer, ausdefinierter Politik und ihrer Kontexte in (historischen) Krisenmomenten in Form von Infragestellungen sichtbar werden. Der daran geknüpfte Ausverhandlungsprozess verdeutlicht, wie klar Erzählen nicht nur in das Feld der Künste hineinwirkt, sondern – einmal mehr, einmal weniger – eine wahrnehmbare Unterfütterung unserer Orientierung in und Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit mitbestimmt. Es kann, eben weil im Fiktiven etymologisch auch das Fingierte verankert ist, deshalb niemals egal sein, was auf welche Weise wortwörtlich zur Sprache kommt – und geschichtliche Wirklichkeit zu stiften vermag.
Eröffnet wird die vorliegende Ausgabe von Siegfried Nasko, Begründer und langjähriger Leiter des Karl-Renner-Museums für Zeitgeschichte in Gloggnitz, der einen bemerkenswerten Beitrag zur Geschichte der sozialistischen Bewegung in Österreich verfasst hat. Mit detailverliebter Genauigkeit präsentiert Nasko die Zusammenfassung seiner Renner-Biografie aus dem Jahr 2016, indem er Fakten zu Renners Leben und politischen Positionen vorstellt und sie in einen allgemeinen zeitgeschichtlichen Kontext setzt. Dabei wird der Lebenslauf Renners akribisch aufgearbeitet und es steht nicht ohne Aktualitätsbezug vor Augen, dass für den zweifachen Staatsgründer – ganz im Sinne des Austromarxismus – der Staat nicht abgelehnt oder bekämpft werden sollte, sondern vielmehr als Hebel zum Sozialismus zu begreifen ist. Insgesamt stellt der Autor mithin die Frage: Ist Renner zu Unrecht umstritten? Auch der Beitrag von Barbara Serloth nimmt sich eines zeitgeschichtlich relevanten Themas an und ist insbesondere auch für Sozialdemokrat*innen von besonderem Interesse. Denn die Autorin untersucht die hochgradige Kontinuität zum Nationalsozialismus in der Geschichte der Zweiten Republik, die durch alle politischen Lager hindurch nachgewiesen werden kann und mit einem manifesten Antisemitismus identisch war und ist. Dabei steht vor allem die politische Elite Österreichs im Blickpunkt der Analyse und der Kritik, da sie den radikalen legislativen Entrechtungsprozess im Nationalsozialismus systematisch verharmloste und so die Entrechtung der Jüdinnen und Juden „demokratisch“ legitimierte. Dies entsprach einem düsteren Zusammenfallen von Opferthese und Verschweigen, die beide mit der Verweigerungs- und Abwehrpolitik in Sachen Restitution einhergehen.
Stellen diese beiden Beiträge die Vermittlung des Historischen als Geschichtserzählung ins Zentrum, so stellt der österreichische Autor Max Haberich diese narrative Strategie in seinem Prosatext Bergluft im besten Sinne auf den Kopf: In seiner Verflechtung aus realen und fiktiven Elementen erfolgt die Auseinandersetzungen mit der Wirklichkeit und den (politischen) Skandalen, die entsprechende Schlagzeilen mit sich bringen, über den Weg der Parodie. Im Bewusstsein für den auch ästhetisch fordernden Umstand, dass „parody creates nothing of its own“ (C. Brooke-Rose), vollzieht Haberich eine literarische (Re-)Kontextualisierung des Erzählten; der Inhalt wird folglich in ein Verhältnis zu Umständen gestellt, die bekannt oder zumindest nachvollziehbar sind. Das Weitergehen als Weitererzählen ist in der Folge für die Erzählung von Zarah Weiss zentral. Mit Einst schien durchs Gold kein Licht problematisiert sie nicht nur Liebesvorstellungen und Lebensentwürfe; ihr gelingt vielmehr auch ein produktives Zusammendenken von Kritik an leichthin akzeptierten Konventionen bzw. Weltbildern und der anregenden Darstellung der Stiftungsmacht, die Narrative für die Ausgestaltung von Identität, Zusammengehörigkeit und Intimität beinhalten. Auch in Wir hatten uns einen Rosengarten versprochen von Thomas Ballhausen wird der erzählerische Unterbau der sogenannten Wirklichkeit einer kritischen Lektüre unterzogen. Einmal mehr die Folie der Fantastik nutzend, arbeitet sich der Autor an Fragen von Ordnungen und Kultur ab, um erneut die mannigfaltigen Relationen zwischen Geschichte, Historiografie und Storytelling herauszuarbeiten. Da erscheint es nur konsequent, wenn Museumslandschaften zu Konfliktzonen werden oder auch das Auftreten imaginärer Wesen keine Rettung mehr versprechen kann. Einen eindrucksvollen Blick in die Bildarchive der Kunst liefert auch die aktuelle Bildstrecke: Die Redaktion der ZUKUNFT dankt an dieser Stelle der herausragenden Künstlerin Sonja Gassner, die ihre Arbeiten freimütig für diese Ausgabe zur Verfügung gestellt hat. Ihre Bilder führen uns in Traumlandschaften, die ihrerseits dazu einladen, visuelle Narrative auszumachen, die nachdrücklich zur Kontemplation einladen: so sehen wir Labyrinthe, Geister, schlechte Träume oder Monster in unserem Kopf, die uns nach Sichtung dieser intensiven Bildstrecke auch weiter beschäftigen werden.
Abgeschlossen wird die Ausgabe von einem Review-Essay, das auf übergeordneter Ebene ebenfalls die Gegenwart im Blick hat: Es freut die Redaktion der ZUKUNFT, dass Elisabeth Kaiser als Herausgeberin der von der Wiener Bildungsakademie edierten Wiener Perspektiven sich die Mühe gemacht hat, den zweiten Band dieser Reihe mit dem Titel Digitale Wohlfahrtsgesellschaft. Der Weg in eine digitalisierte Zukunft zu besprechen. Denn die digitale Transformation hat sich auf verschiedene Bereiche wie Wirtschaft, Staat und Gesellschaft ausgedehnt und die Lebenswelten der Menschen längst erreicht, wie wir angesichts der COVID-19-Pandemie alle erlebt haben. Wenn es um die Gestaltung dieses technologischen Zusammenhangs geht, dann wird mit der Veröffentlichung und dem Beitrag Kaisers deutlich, wie wichtig die Auseinandersetzung mit den digitalen Produktionsbedingungen der Gegenwart ist, wenn zur Debatte steht, wie Wien angesichts der wichtigen Diskussionen zum Digitalen Humanismus zur Digitalisierungshauptstadt werden kann. Kurz: Menschen sind eben keine Maschinen …
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2022
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