Der klassische Sozialcharakter hat sich diversifiziert. Heute tummelt sich auf den Bühnen moderner Kommunikationsgesellschaften ein buntes Gemisch – Influencer und Blogger, Gamer und Trader, Querdenker und Wutbürger, Verschwörungsgläubige und Satanisten, esoterische Sinn- oder Gottsucher, zudem engagierte Klima- und Sozialrebellen einer moralisch hochsensiblen wie politisch hellwachen Generation Z, die den Konsumismus der Generation X wie den Pragmatismus der Generation Y hinter sich lässt. Miteinander teilen all diese Gruppierungen einen gegenwartstypischen Hang zur performativen Selbstentfesselung: Zeigen wir der Welt, wer wir sind! In einer unruhigen Gegenwart mit ihrer Anhäufung bedrohlicher Krisen navigiert das entfesselte Selbst auf ambivalente Weise: psychisch zwischen innerer Befreiung und äußerer Enthemmung, soziokulturell zwischen Identitätshoffnungen und Zukunftsängsten, kosmopolitisch zwischen dem Menschheitsfortschritt einer zusammenwachsenden Welt und der totalitären Versuchung durch geschichtlich längst diskreditierte Ideologien, die der anschwellende Panpopulismus wieder aufleben lässt. Aus der Perspektive einer relationalen Psychoanalyse betreibt Martin Altmeyer zeitdiagnostische Aufklärung als Selbstaufklärung.
Inhalt
Prolog 15
Mentale Zeitenwende und eine Welt in Unruhe: zur
Ambivalenz und Aktualität der Entfesselungsmetapher
Statt einer Einleitung 29
Mittendrin statt nur dabei: der Massensport als Seis
mograph des Zeitgeists
Teil
Psychische Entfesselung oder das Seelenleben zwischen
Befreiung und Enthemmung 45
1 Die exzentrische Psyche.
Warum Menschen aus sich herausgehen und aller Welt zeigen,
was in ihnen steckt 47
Von innen nach außen: Sei du selbst und zeige, wer du bist! 48
Jenseits des Heldentums: die postheroische Persönlichkeit 52
Hinter der Selbstdarstellung: eine Suche nach Anerkennung 57
2 Der maskierte Narzissmus.
Wie sich hinter der scheinbaren Selbstbezogenheit ein Bedürf
nis nach Anerkennung verbirgt 65
Trieb- oder Umweltmodell: Freuds Theorieambivalenz 66
Im Blick des Anderen: die intersubjektive Bedeutung der Spiegel
metapher 69
Das narzisstische Paradox: Abhängigkeit versus Unabhängigkeit 74
3 Die Erfindung des Säuglings.
Wie sich das frühkindliche Seelenleben aus Umweltinterakti
onen erschließen lässt 81
Eine Frage des psychischen Ursprungs: Autismus oder mentale
Bezogenheit 82
Der Vorrang des Sozialen: eine interpersonelle Entwicklungs
theorie 85
Einsichten ins Seelenleben: Konstruktion oder Rekonstruktion 91
4 Das relationale Unbewusste.
Wie ein heimliches Seelenscharnier die innere mit der äußeren
Realität verbindet 95
Der virtuelle Andere: eine Beziehung im Wartestand 96
Regression oder Progression:zwei Wege aus der Symbiose 100
Im Dienst der Anpassung: das Unbewusste als der »große Kon
formist« 104
5 Paradoxien des Selbst.
Weshalb Individuierung und Vergesellschaftung zwei Seiten
der seelischen Entwicklung sind 109
Festhalten an der Amöbensage: die Legende vom vorsozialen
Selbst 110
Winnicotts Korrektur: ein Gefüge aus Umwelt und Individuum 115
Metaphernaustausch: vom seelischen Apparat zur vernetzten
Seele 119
6 Innen, Außen, Zwischen.
Wozu eine moderne Psychoanalyse ihr klassisches Trieb-
durch ein Beziehungsmodell der Seele ersetzt 123
Das Paradigma der Intersubjektivität: Ich ist ein Anderer 124
Die Psyche als Beziehungsorgan: Kontakte suchen, Verbin
dungen herstellen, Netzwerke knüpfen 129
Das Ende der Monadentheorie: Konvergenz in der Basistheorie
der Humanwissenschaften 134
7 Glaube oder Wissen.
Wie uns eine fatale Neigung zum Psychofundamentalismus in
die Untiefen der Gegenaufklärung fuhrt 137
Ausgrenzung des Fremden: ein Dilemma im psychoanalytischen
Identitätsdiskurs 138
Lebensgeschichte als Gerücht: no memory, no desire, no under
standing 143
Messianische Verlockung: Abwege autoritärer Deutungsmacht 148
Teil II
Soziokulturelle Entfesselung oder Heil und Unheil aus
der Büchse der Pandora 155
8 Eine Urformel des Mentalen.
Wie sich das Selbstgefühl in einer Dreiecksbeziehung aus Ich,
dem Anderem und der Realität bildet 157
Die abwesende Außenwelt: zur triadischen Struktur von Psycho
therapie 158
Der Ödipuskomplex: ein klassisches Dreiecksmodell der Ichbildung 161
Epistemische Verwirrung: das Dritte im psychoanalytischen Plu
ralismus 162
Exkurs: das Eifersuchtsdrama am Fallbeispiel einer Paartherapie 167
9 Das Internet als Resonanzsystem.
Wie Echo- und Spiegelwirkungen einer medialisierten Lebens
welt unser Seelenleben durchdringen 173
Eine Ökonomie der Aufmerksamkeit: die authentische Persön
lichkeit als Edelware 174
Im mentalen Kapitalismus: das Selfie als universelles Massenprodukt 176
Früher war alles besser: Medienschelte, Modernekritik und Kul
turpessimismus 182
10 Morden im Rampenlicht.
Warum auch das Böse sich öffentlich präsentiert und sein
Publikum braucht 187
Der unzurechnungsfähige Täter: die Entlastungsfunktion der
Ursachenlogik 188
Eine Lust am Töten vor Zeugen: die szenische Phänomenologie
der Gewalttat 191
Die Inszenierung von Bedeutung und Allmacht: ein grandioses
Selbst in Aktion 193
11 Quellen der Destruktivität.
Weshalb menschliche Vernichtungswut auf schwere Entglei
sungen im Zwischenmenschlichen verweist 197
Weder von innen noch von außen: die Sozialpathologie des Bösen 198
Im Namen der höheren Moral: ein Sprung über Gewissen und Schuld 203
Leerstellen im westlichen Wohlstandsmodell: Botho Strauß und
Jürgen Habermas über Sinnverlust 206
12 Selbstfindung statt Lustgewinn.
Wieso nicht mehr Sexualität, sondern Identität das seelische
Hauptproblem unserer Zeit ist 211
Symptomverschiebung oder Strukturwandel: das verunsicherte
Selbst in der reflexiven Moderne 212
Auf dem Weg zur Post-Privacy: das prekäre Verhältnis von Sicht
barkeit und Unsichtbarkeit 216
Der Identitätsanker als Identitätsfalle: ein Essenzialismus durch
die Hintertür 219
13 Sackgassen in »Wokistan«.
Wo im gerechten Kampf gegen Diskriminierung die Fallen der
Selbstgerechtigkeit lauern 223
Selbstviktimisierung: die Opferfalle 224
Kulturelle Aneignung: die Authentizitätsfalle 226
Aufspaltung in Gruppen: die Partikularismusfalle 229
Relativierung des Holocaust: die Falle des Postkolonialismus 232
Sex oder Gender: die sozialkonstruktivistische Falle 236
14 Je schlimmer, desto besser!
Warum sich eine kritisch angewandte Psychoanalyse auf die
Pathologien der Moderne fixiert 251
Von der Neurasthenie zum Narzissmus: kurze Jahrhundert
geschichte des Sozialcharakters 252
Exkurs: das Schicksal der autoritären Persönlichkeit im geteilten
Nachkriegsdeutschland 253
Konkurrierende Zeitdiagnosen: die rasende Zeit oder das
erschöpfte Selbst 257
Nach uns die Sintflut: die Postmoderne und das angebliche Ende
des Subjekts 266
Teil III
Kosmopolitische Entfesselung oder die Geburtswehen
einer zusammenwachsenden Welt 273
15 Irren ist menschlich.
Wie ein gefährliches Virus wahnhafte Verschwörungstheorien
beflügelt und geliebte Weltbilder bestätigt 275
Bewältigung von Angst: die beruhigende Wirkung von Wahn
systemen 276
Kreativität auf Abwegen: die Welt neu erfinden, die man vorfindet 278
Vor Irrtümern ist niemand gefeit: Kapitalismus fuhrt zum
Faschismus 280
16 Verlust der großen Utopie.
Weshalb auch die 68er-Generation Vergangenheit zu bewälti
gen und Trauerarbeit zu leisten hat 283
Unter dem Pflaster der Strand: ein kollektiver Traum von der
befreiten Gesellschaft 284
Sexualität und Klassenkampf: von der antiantiautoritären
Revolte zur sozialen Revolution 289
Das rote Jahrzehnt: Heilsgewissheiten und eine andere Unfähig
keit zu trauern 295
17 Sehnsucht nach dem Feind.
Weshalb die Dunkelschichten im deutschen Linksterrorismus
immer noch auszuleuchten bleiben 299
Die Attraktivität der RAF verstehen: Reemtsma gegen Richter 300
Macht Schluss mit dem Todestrip: von der Hypermoral zur
Opferidentität 307
Antisemitismus trifft Antikapitalismus: die »Geldjuden« und
der »Judenknax« 316
18 Das Paradies im Himmelreich.
Womit ein totalitärer Islam den gottlosen, mammonistischen
und dekadenten Westen herausfordert 327
Eine verhängnisvolle Kriegserklärung: die Aufwertung des Dschihad 328
Der Streitfall um Deutungshoheit: Islamofaschismus oder Isla
mophobie 331
In den Dunkelkammern der Vormoderne: die Mär vom »Gol
denen Zeitalter« 337
19 Das Rätsel um Donald Trump.
Wie ein eifernder Nationalchauvinismus die älteste, stabilste
und mächtigste Demokratie der Welt ins Wanken bringt 345
Make America great again: die Einfühlungskunst eines Ratten
fängers 346
Zuflucht bei alternativen Wahrheiten: ein Volkstribun und sein
Volk 348
Polarisierung durch Kulturkampf: der ideologische Einflüsterer
hinter den Kulissen 353
20 Seelenverwandtschaften.
Wie im Fahrwasser radikaler Globalisierungskritik die weltan
schaulichen Gegensätze verschwimmen 355
Der Fußballhooligan im Gotteskrieger: Bereitschaft zur Attacke 356
Das Rechte im Linken: Hass gegen System und Kapital 360
Der Kommunist im Islamisten: Sehnsucht nach der »Großen
Harmonie« 363
21 Das Unbehagen in der Kultur.
Woher der anschwellende Panpopulismus seine rebellischen
Widerstandsenergien bezieht 373
Verlustangst, Verteidigungsbereitschaft und Gewaltphantasie:
der kommende Aufstand 374
Mentale Zumutungen der Gegenwartsmoderne: Bürger in Wut 381
Die weltoffene Gesellschaft in der Defensive: ein Rebound der
Globalisierung 382
Epilog 389
Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch:
Geschichtsoptimismus gegen Weltuntergangsstimmung
Literatur 403
Personenregister 423
Sachregister 429
Nachweise 451