VERLAGSTEXT: / / Der Fall Schreber ist ein Klassiker der Psychoanalyse - zahllos die Schriften, die über ihn verfasst worden sind. Und dennoch: Daniel Paul Schreber (1842-1911) ist ein Fall für sich, denn im Gegensatz zu den Säulenheiligen der Psychoanalyse hat er es sich niemals auf der Couch eines Psychoanalytikers bequem gemacht. Man hat es also nicht mit einer Deutung, sondern mit der Autobiographie eines Wahns zu tun, mit dem seltenen, in dieser minutiösen Form ganz und gar einmaligen Fall, dass ein Paranoiker sein Weltbild aufzeichnet, in seinen eigenen Worten und in einer Sprache, die noch nicht in der Zwangsjacke des Theoretischen steckt. Und so bleibt der Fall Schreber vor allem der Fall des Senatspräsidenten und vormaligen Reichstagskandidaten Daniel Paul Schreber, des Sohnes des Daniel Gottlieb Moritz Schreber (des Schrebergartenschrebers und Verfassers der ärztlichen Zimmergymnastik) - und wie dieser soignierte Herr eines Tages, von einer Nervenkrise heimgesucht, sich in die Obhut des Psychiaters Flechsig begab. Damit begann, von außen betrachtet, eine lange und düstere Anstaltskarriere, die in der Innenwelt des Daniel Paul Schreber sich jedoch zu einem höchst eigenartigen Weltbild verwandelte. Denn Schreber war davon überzeugt, dass all dies eine göttliche Prüfung sei, deren Sinn und Ziel darin bestünde, ihn zu einem Weibe zu machen, zur Miss Schreber, jenem heiligen Medium, das dazu auserkoren sei, mit Gottvater selbst eine neue Menschheit ins Leben zurufen, ›Menschen aus Schreberschem Geiste‹. Wenn es einen Text gibt, in dem ES spricht, so hier - in diesem Werk, das eigentümlich oszilliert zwischen Wahn und Methode, ja, dessen Doppelgestalt aus kantischer Klarheit und blühendem Irrsinn die Vermutung nahelegt, dass der Wahn nicht das ganz Andere, sondern nur die andere Seite der Methode sein könnte. / / "Er war ein Mann von Bildung und Verstand; sein Beruf hatte ihn zu klaren Formulierungen erzogen. Er hatte sieben Jahre als Paranoiker in Heilanstalten verbracht, als er sich entschloß, das, was der Welt als Wahnsystem erschien, in allen Einzelheiten niederzuschreiben." Elias Canetti / / Rezension: / / Das Weltmisstrauen als Krise des 20. Jahrhunderts / / Hundert Jahre "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" von Daniel Paul Schreber: Zwei neue Ausgaben eines lange vergriffenen Buches / / Welche Bücher machen Epoche? Im Fall der "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" von Daniel Paul Schreber, deren Erscheinungsjubiläum im letzten Winter zu verschiedenen Neueditionen und Forschungsarbeiten Anlass gab, sprachen alle Vorzeichen dagegen, handelt es sich doch um / / - ein von seinem Autor 1903 zwar nicht im Selbstverlag, aber auf eigene Kosten veröffentlichtes Buch, / - das seiner Selbstverteidigung als "nerven-", aber nicht "geisteskranker" Insasse einer Psychiatrischen Universitätsklinik dienen sollte und / - dessen Erstauflage, um das Buch der Öffentlichkeit sobald wie möglich zu entziehen, von der Familie des Autors kurz nach seinem Erscheinen wahrscheinlich größtenteils aufgekauft worden ist, / - während sein erstes und für lange Zeit einziges, aber deutlich vernehmbares öffentliches Echo auf psychiatrische Fachzeitschriften beschränkt blieb, in denen das Buch unmittelbar nach seinem Erscheinen zum Teil allerdings ausdrücklich begrüßt worden ist: "Was aber das Buch für den Fachmann wertvoll macht - und das wird wohl gerade der Verf. am allerwenigsten beabsichtigt haben! - das ist die Darstellung einer Paranoia, wie sie wohl bisher in dieser Vollständigkeit und diesem Umfange noch nicht geboten worden ist. Der Verf., ein äusserst scharfsinniger Jurist, versteht es in ausgezeichneter Weise, seine im Beruf ihm zur Gewohnheit gewordene Logik auf die Erzeugnisse seiner kranken Phantasie zu übertragen und bietet auf diese Art eine Darstellung, die der kundige Arzt nur als vollendet bezeichnen kann" (Windscheid, Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, 1904). / / Flüchtig hingemachte Männer / / Wie konnte dieses Buch zu einer Zeit, die, im Gegensatz zu der unseren, der "Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit" noch die Scham der Familie oder der nicht unmittelbar nach Publizität strebenden Fachzeitschriften entgegensetzte, trotzdem Epoche machen? Drei - in ihrer Aktualität anhaltende - Faktoren waren dafür ausschlaggebend: / 1. Der jungen, um institutionellen Einfluss bemühten Disziplin der Psychoanalyse gelang es nicht zuletzt dank ihrer Interpretation der "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" durch den Gründervater Sigmund Freud 1911, auf das Feld der Psychiatrie im Allgemeinen, der Psychosenforschung im Besonderen vorzustoßen - allerdings um den Preis einer von ihr selbst verdrängten "Solidarität", wenn nicht gar "Komplizenschaft" mit Schreber. Seinem Buch verdankt sich Freuds und Carl Gustav Jungs Einsicht, dass der psychotische Verfolgungswahn einer verdrängten Homosexualität entspringen soll; die Feststellung "Ich liebe ihn" wird durch die Abwehrgeste der Projektion in ihr Gegenteil verkehrt: "Er verfolgt mich." Als Dank hatte Freud in einem Brief an Jung, der ihn auf das Buch aufmerksam gemacht hatte, allerdings nur den müden Witz über "den wunderbaren Schreber" übrig, "den man zum Professor der Psychiatrie und Anstaltsdirektor hätte machen sollen". / 2. Die "eigentliche" Aktualität dieses Buches aber entspringt seiner "Nachträglichkeit", die das eigentliche Medium darstellt, in dem sich das 20. Jahrhundert spiegeln sollte. "Nachträglichkeit" bezeichnet in der Psychoanalyse den Umstand, dass erst in ihrer blinden, tauben und stummen Wiederholung als körperliche Symptome die verdrängten Ursachen eines Traumas zutage treten. Die in den "Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken" aufs eindringlichste dargestellte Krise entführt uns nicht in eine fremde Welt. Schlimmer - Schrebers Kosmologie entfremdet uns die Welt: Wie Gott besteht das ganze Universum aus Nerven, haben die Gottesnerven doch "die Fähigkeit, sich umzusetzen in alle möglichen Dinge der erschaffenen Welt; in dieser Funktion heißen sie Strahlen; hierin liegt das Wesen des göttlichen Schaffens". Nach dem Tod eines Menschen geht seine Seele, die "in den Nerven des Körpers enthalten" ist, nach einer Läuterung in die "Vorhöfe des Himmels" ein, wo sie die "Seligkeit" der Schöpfung vermehrt. Soweit der "weltordnungsmäßige Zustand". In der Regel verkehrt Gott also - und schon hier wird unter dem Vorzeichen der "Weltordnungsgemäßheit" Schrebers tragische Ironie spürbar - nur mit Leichen; die menschliche Natur ist ihm ein Rätsel. Nur "mit einzelnen hochbegabten Menschen (Dichtern usw.)" setzt er sich schon zu ihren Lebzeiten in Verbindung, indem er "Nervenanhang bei demselben" nimmt. Auf diesem Weg kommt es zur Katastrophe. Ihr Ausgangspunkt ist der allzumenschliche Umstand, dass Gott selbst am "Zustande ununterbrochenen Genießens", den die "Seligkeit" darstellt, teilhaben möchte. / Schreber sah sich deshalb nicht nur um die Hoffnung betrogen, mit der er sich Paul Emil Flechsig, dem Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik Leipzig, anvertraute. Im Raum steht mit dem Begriff "Seelenmord" der "leise Vorwurf" an Flechsig, ihn "bei einem zufällig sich bietenden Anlasse von höchstem wissenschaftlichem Interesse neben dem eigentlichen Heilzwecke zugleich zum Versuchsobjekt für wissenschaftliche Experimente" gemacht zu haben. Im Klartext: Flechsig habe Schrebers Nerven durch Hypnose und Schlafmittel zerrüttet und dadurch die Weltordnung auf den Kopf gestellt, werden doch nun alle Strahlen von Schreber als neuem Mittelpunkt des Universums angezogen. Doch bald erweist sich der wollüstige Gott selbst als Anstifter dieses Komplotts. / Der folgende Bericht ist die quälende Schilderung, wie Schreber sich jahrelang dem durch die Strahlen in Form von Stimmen unablässig ausgeübten "Denkzwang" widersetzt, mit dem sein Verstand mürbe gemacht werden soll; gleichzeitig verüben diese Strahlen an seinem Körper eine Reihe von Foltern, so genannte "Wunder", durch die er "entmannt (in ein Weib verwandelt) werden" soll, um, Gott zu Gefallen, "Kinder gebären zu können" und gleichzeitig von Flechsig oder seinen Helfern missbraucht zu werden. Mehr und mehr aber gerät Gott durch diese erhöhte Attraktivität Schrebers - "Ich möchte auch denjenigen Mann sehen, der vor die Wahl gestellt, entweder ein blödsinniger Mensch mit männlichem Habitus oder ein geistreiches Weib zu werden, nicht das Letztere vorziehen würde" - auf dem Weg des Nervenanhangs in dessen Abhängigkeit, bis dieser hoffen darf, die Welt durch die Geburt eines neuen Menschengeschlechts zu erlösen. / Tatsächlich kann Schreber seine Umwelt lange Zeit nur als hinfälliges "Wunder" göttlicher Strahlen, seine Mitmenschen nur als "flüchtig hingemachte Männer", Schattenbilder eines Kinofilms kosmischen Ausmaßes wahrnehmen. Schrebers Lektion: Die Krise entspringt nicht unserer durch eine Katastrophe zerschlagenen Identität, der Selbstverkennung und der Selbstentfremdung; "Identität", "Selbstwahrnehmung" und "Selbstvertrautheit" gehen umgekehrt aus einer permanent drohenden Krise hervor. Schreber ist einer der beredtesten Herolde des Weltmisstrauens. Zweifellos sind seine "Denkwürdigkeiten" "ver-rückt". Die verschobene Perspektive ihrer Weltwahrnehmung gewährt aber einen Einblick in das Drama unserer Selbstwerdung im Spiegel der anderen - unserer Sozialisation als Tragödie. / 3. Folgerichtig haben eine Reihe der scharfsichtigsten Intellektuellen in diesem Buch als Symptom die vorweggenommenen Krisen des 20. Jahrhunderts erkannt: Walter Benjamin wollte auf verschiedene "Bücher von Geisteskranken" (1928) eine Universität des Gegenwissens gründen, in der Schrebers "Denkwürdigkeiten" die theologische Fakultät tragen sollten; Elias Canetti sah darin in "Masse und Macht" (1960) jene "Krankheit der Macht", der letzte Überlebende sein zu wollen, vorweggenommen, welche die nationalsozialistische Bewegung und Adolf Hitler verkörpern sollten; und Friedrich Kittler verdankt den Titel seines Buches "Aufschreibesysteme 1800/1900" (1985), das wie kein zweites die historische Bedingtheit unserer Ausdrucksmöglichkeiten reflektiert hat, explizit den "Denkwürdigkeiten", um hier nur die namhaftesten deutschsprachigen Autoren zu nennen. / / Schreber, Benjamin, Canetti / / Die 1972, 1973 und 1985 vollständig wiederaufgelegten "Denkwürdigkeiten" waren lange Zeit vergriffen. Nun liegt endlich ein ebenso sorgfältig gestalteter wie kommentierter reprografischer Reprint dieses Jahrhundertbuches vor, den Gerd Busse im Gießener Psychosozial-Verlag herausgegeben hat. Es besticht nicht zuletzt durch den bibliografisch dichten Abriss der Wirkungs- und Forschungsgeschichte im Nachwort, augenscheinlich die Frucht jahrelangen Studiums der einschlägigen Literatur. …MARTIN STINGELINAUS DEM INHALT: / / Vorwort V / Offener Brief an Herrn Geh. Rath Prof. Dr. Flechsig . VII / Einleitung 1 / 1. Kapitel Gott und Unsterblichkeit 5 / 2. Kapitel Ein Krisis der Gottesreiche? Seelenmord 16 / 3. Kapitel (von D.P. Schreber nicht für den Druck bestimmt) 24 / 4. Kapitel Persönliche Erlebnisse der ersten und im Beginn / der zweiten Nervenkrankheit 25 / 5. Kapitel Fortsetzung. Nervensprache (innere Stimmen). / Denkzwang. Entmannung unter Umständen / ein Postulat der Weltordnung . 34 / 6. Kapitel Persönliche Erlebnisse. Fortsetzung. Visionen. / "Geisterseher" . 47 / 7. Kapitel Persönliche Erlebnisse, Fortsetzung; eigenartige / Krankheitserscheinungen. Visionen 60 / 8. Kapitel Persönliche Erlebnisse während des Aufenthalts in / der Dr. Pierson'schen Anstalt. "Geprüfte Seelen" . 72 / 9. Kapitel Ueberführung nach dem Sonnenstein. / Veränderungen in dem Strahlenverkehr. / "Aufschreibesystem"; "Anbinden an Erden" 86 / 10. Kapitel Persönliche Erlebnisse auf dem Sonnenstein. / "Störungen" als Begleiterscheinungen eines / Strahlenverkehrs. "Stimmungsmache" 99 / 11. Kapitel Schädigung der körperlichen Integrität durch / Wunder 109 / 12. Kapitel Inhalt des Stimmengeredes. "Seelenauffassung". / Seelensprache. Fortsetzung der persönlichen / Erlebnisse 119 / 13. Kapitel Seelenwollust als Faktor der Anziehung. / Folgeerscheinungen . 129 / 14. Kapitel "Geprüfte Seelen"; Schicksale derselben. / Persönliche Erlebnisse, Fortsetzung 140 / 15. Kapitel "Menschen-" und "Wunderspielerei". Hilferufe. / Sprechende Vögel 148 / 16. Kapitel Denkzwang. Aeußerungen und Begleiterscheinungen / desselben . 158 / 17. Kapitel Fortsetzung des Vorigen; "Zeichnen" im Sinne der / Seelensprache . 167 / 18. Kapitel Gott und die Schöpfungsvorgänge; Urzeugung; / gewunderte Insekten. "Blickrichtung". / Examinationssystem 174 / 19. Kapitel Fortsetzung des Vorigen. Göttliche Allmacht / und menschliche Willensfreiheit 184 / 20. Kapitel Egozentrische Auffassung der Strahlen in Betreff / meiner Person. Weitere Gestaltung der / persönlichen Verhältnisse 192 / 21. Kapitel Seligkeit und Wollust in ihrer gegenseitigen / Beziehung. Folgerungen aus diesem Verhältnisse / für das persönliche Verhalten . 200 / 22. Kapitel Schlußbetrachtungen. Ausblick in die Zukunft . 210 / NACHTRÄGE, erste Folge (Oktober 1900 bis Juni 1901) / I. Wunder betreffend (Oktober 1900) . 217 / II. Verhältnis der göttlichen zur menschlichen Intelligenz / betreffend (11. Oktober 1900) . 219 / III. Menschenspielerei betreffend (Januar 1901) 221 / IV. Halluzinationen betreffend (Februar 1901) . 224 / V. Die Gottesnatur betreffend (März und April 1901) 233 / VI. Betrachtung hinsichtlich der Zukunft. Vermischtes / (April und Mai 1901) 245 / VII. Feuerbestattung betreffend (Mai 1901) 251 / Nachträge, zweite Folge (Oktober und November 1902) . 254 / ANHANG / Unter welchen Voraussetzungen darf eine für geisteskrank / erachtete Person gegen ihren erklärten Willen in einer Heilanstalt / festgehalten werden? . 265 / I. Gerichtsärztliches Gutachten . 275 / II. Anstaltsbezirksärztliches Gutachten 281 / III. Berufungsbegründung 288 / IV. Gutachten des Geh. Rath Dr. Weber 312 / V. Urtheil des Königlichen Oberlandesgerichts Dresden 323 / Nachwort von Wolfgang Hagen 345 / Bibliographie (in Auswahl) 363 / Editorischer Hinweis . 367