Eine scharfsinnige und provokante philosophische Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Debatte um das Thema »Shaming« von SPIEGEL-Bestseller-Autor Robert Pfaller.
In unserer Kultur der sozialen Medien finden viele, dass andere sich schämen sollten: Großkonzerne, Steuerhinterzieher, weiße, männliche Heterosexuelle, Dicke, Hässliche, Gegner. Früher wollte man mit Andersdenkenden diskutieren. Heute versucht man, sie nicht zu Wort kommen zu lassen. Das ist wie bei der Scham. Denn bei der Scham muss immer etwas weg: Jemand möchte im Boden versinken oder am liebsten tot sein.
In seinem neuen Buch »Zwei Enthüllungen über die Scham« untersucht Robert Pfaller die Hintergründe dieses Phänomens. Er widerlegt die beiden Hauptirrtümer über die Scham: erstens die These der Kulturanthropologen, dass in Schamkulturen Menschen ihr Verhalten an den Meinungen der anderen orientieren. Und zweitens die These der Psychoanalytiker, dass Scham in einem »Idealungenügen« bestünde, dass Menschen sich also aus Minderwertigkeitsgefühlen schämen.
Beide Auffassungen werden in diesem Buch widerlegt. Gleichzeitig entwickelt Robert Pfaller bessere Strategien, um uns aus den leidvollen Zuständen der Scham zu befreien. Denn es hilft nicht, Barbiepuppen zu modifizieren oder dickere Models auf Laufstege zu schicken. Erst ein besseres Verständnis der Scham eröffnet den Blick für Auswege aus den Sackgassen der aktuellen Pseudo-Schamkultur.
Pfallers Stärke »liegt in seiner Fähigkeit, paradoxen Entwicklungen unserer Zeit auf die Spur zu kommen und sie auf einen treffenden Begriff zu bringen.« Konrad Paul Liessmann
Inhalt
Einleitung
1. Die Scham als Luxusartikel. Eine Maske
verhohlenen Stolzes 12
Konsumscham 14
Verbrauchsscham 16
2. Das Niemandsland der Scham 18
Körperscham 19
Seinsscham 23
3. Die Scham der Verarmten 27
»Prometheische Scham« 28
Isolationsscham 31
Scham durch Exponiertheit 32
4. Fremdschämen. Scham als soziales Faktum 34
5. Politische und moralisierende Scham 39
Shaming 39
Schambasierte Beseitigungsstrategien: »Schäm Dich!«
und »Weg mit dir!« 41
Kaltstellen durch Schambehauptung: »Ich schäme mich
für dich!« 48
6. Leben wir in einer Schamkultur? 50
7. Schamkrankheiten? Die »neuen Pathologien« und
ihre möglichen Schamursachen 54
8. Von den aktuellen Erscheinungsformen der Scham
zu ihrer Theorie 60
Erste Enthüllung:
Die Scham ist nicht »außengeleitet«.
Der Irrtum der Anthropologen: Scham als Wirkung von
Fremdbeurteilung. Schuld als Ruf des eigenen Gewissens 63
Aktualität des ersten Irrtums über die Scham 66
Herkunft des Irrtums aus der Anthropologie 68
Erster Gegenbeweis: Scham ohne Kenntnis und Verurteilung
durch andere. Der Fall des »unschuldigen Missetäters« 70
Zweiter Gegenbeweis: Kenntnis und Verurteilung durch
andere ohne Scham. Der Mann auf der Palme und
der Mann mit der Zigarre 72
Das Diskretionsgebot der Scham 74
Schlussfolgerung: Scham entsteht nicht, wenn alle von einer
peinlichen Sache wissen. Die Scham bricht erst dann aus,
wenn ein »Als-ob« zusammenbricht 76
Der Adressat des »Als-ob«: Mannonis »naiver Beobachter« 77
Der Grund für den Irrtum der Anthropologen 82
Eine andere Art von Außenleitung 85
Zweite Enthüllung:
Die Scham beruht nicht auf einem Zuwenig,
sondern auf einem Zuviel. Die Scham kommt von unten,
nicht von oben.
Der Irrtum der Psychoanalytiker: Scham als vom Über-Ich
beanstandetes Defizit des Ich gegenüber einem Ideal. 89
Schwierigkeiten dieser Auffassung 92
Die Auffassung der Scham als Reaktion auf Schwäche oder
Minderwertigkeit: ein Erkenntnishindernis 96
Versuch einer Neukonstruktion. Scham als Wirkung einer
Beobachtung von unten 99
Das Unter-Ich 103
Was sich von unten sehen lässt 104
Die Ehre. Das positive Guthaben der Scham 105
Eine Reaktionsbildung? 110
Stolz und Selbstachtung: Selbstwert im Vorhinein und
im Nachhinein, ex ante und ex post 112
Verlust des Stolzes, Plötzlichkeit der Scham 115
Scham als Folge von Entblößung: aber wovon? 115
Das Ich als Unding. Das Unheimliche: Zur Theorie des
obszönen Überschusses 116
Die Überflutung durch die Scham: das Maßlose des
Überschusses 119
Das Unheimliche: der Schlüssel zum Verständnis
der Scham 121
Scham als Regression in den primären Narzissmus.
Ein Ausbruch des Genießens 122
Sich schämen für Schwäche wie für Stärke 124
Die Umkehrung der Affektqualität: Unlust statt Lust 125
Resümee 127
Anhang:
Zur Ontologie des Obszönen
und zu einer Politik der Scham
Epilog 133
Dank 141
Anmerkungen 143
Bibliographie 191
Begriffs- und Namensregister 207