Abraham Moritz Warburg, genannt Aby Warburg, (* 13. Juni 1866 in Hamburg; † 26. Oktober 1929 in Hamburg) war ein deutscher Kunsthistoriker, Kulturwissenschaftler und der Begründer der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. Gegenstand seiner Forschung war das Nachleben der Antike in den unterschiedlichsten Bereichen der abendländischen Kultur bis in die Renaissance. Von ihm wurde die Ikonografie als eigenständige Disziplin der Kunstwissenschaft etabliert. Aby Warburg gilt als einer der bedeutenden Anreger der Geisteswissenschaften im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Obwohl Warburg zu seinen Lebzeiten in der akademischen Welt geschätzt war, blieb er doch weithin unbekannt und wurde während des Nationalsozialismus und in den ersten Nachkriegsjahren fast vergessen. Erschwert wurde die Rezeption seines Werkes dadurch, dass nur wenige seiner Texte überhaupt veröffentlicht waren und zum Teil nur in Bearbeitungen durch Mitarbeiter und nur zum Teil auf Deutsch gedruckt vorlagen. Der größte Teil seines wissenschaftlichen Nachlasses besteht aus Notizen, Zettelkatalogen, ca. 35.000 Briefen, unvollendeten Manuskripten sowie einem von 1926 bis 1929 geführten Bibliothekstagebuch. Der Umzug von Bibliothek und Mitarbeitern 1933 nach London machte die junge Disziplin Kunstwissenschaft in den angelsächsischen Ländern bekannt und förderte die Einrichtung von Lehrstühlen an den dortigen Elite-Universitäten. Neues Interesse an Warburg erwachte mit der Publikation der Biographie von Ernst Gombrich, die 1970 in England erschien und erst elf Jahre später in deutscher Übersetzung gedruckt wurde. Diese Arbeit war allerdings wegen ihrer Lücken und einer gewissen Subjektivität immer umstritten. Seit den 1970er Jahren bemühen sich vor allem Martin Warnke und das Londoner Warburg Institute um die Edition von Warburgs Nachlass. Er erscheint seitdem nach und nach in vorzüglich begleiteten Ausgaben und ermöglicht eine intensive Auseinandersetzung mit der Gedankenwelt des Verfassers. Warburg hat mit der Ikonologie der zu seiner Zeit dominierenden Stilanalyse eine neue Methode zur Seite gestellt. Eine Reihe seiner Wortschöpfungen hat Eingang in die Terminologie der Kunstwissenschaft gefunden. Begriffe wie Denkraum, psychische Energiekonserven oder die bekannte Pathosformel führen inzwischen ein Eigenleben und werden nicht immer in Warburgs Intention benutzt. Der oft zitierte Satz: Der liebe Gott steckt im Detail bezieht sich auf das genaue Studium von ganz unterschiedlichen Dokumenten, das erst ein tieferes Verständnis eines Bildes im Rahmen seines historischen und sozialen Zusammenhangs ermöglicht. Diese Methode ist ein Kennzeichen von Arbeiten, die aus der so genannten „Warburg-Schule“ hervorgegangen sind. Die Erforschung der italienischen und deutschen Renaissance wurde durch Warburg und seine Kulturwissenschaftliche Bibliothek entscheidend geprägt. Das Nachleben der Antike und der antiken Götter, das Wirksamwerden heidnisch-antiker Bild-Vorstellungen und magischer Bildpraktiken – speziell in der Renaissance –, das sich in der europäischen Kultur ohne Unterbrechungen nachweisen lässt und in der Astrologie bis heute virulent ist, war ein Thema, auf das er die Aufmerksamkeit der Kulturwissenschaften gelenkt hat. Einen neuen Impuls erhielt die Warburg-Forschung im Zuge des sogenannten Iconic Turn. In ihrer Forderung nach einer interdisziplinären Beschäftigung mit der Welt der Bilder, mit Erkenntnissen und Methoden der Philosophie, Theologie, Ethnologie, Kunstgeschichte, Medienwissenschaft, Kognitionswissenschaft, Psychologie und der Naturwissenschaften und der Berücksichtigung und Analyse von visuellen Dokumenten jeder Art sehen manche Autoren in Warburg einen Vorläufer.
Warburg, der im Alter von sechs Jahren schwer an Typhus erkrankt war, blieb von dieser Zeit an von labiler körperlicher und seelischer Gesundheit. Von Kindheit an neigte er zu nervösen Zuständen, und bei Belastungen reagierte er schnell mit übersteigertem und erregtem Verhalten. Eine schwere Erkrankung der Mutter im Jahre 1874 verstärkte seine psychische Labilität. Immer wieder war er in seiner wissenschaftlichen Arbeit durch Depressionen gelähmt. Im November 1918 schließlich brach bei Warburg, der die Nachkriegszeit mit ihren ernsten wirtschaftlichen und sozialen Problemen als eine Phase elementarer Bedrohung für sich und seine Familie empfand, eine schwere Psychose aus, bei der er die Kontrolle über sich und seine Situation verlor. Als er aus Angst wegen der als chaotisch empfundenen politischen Situation drohte, sich und seine Familie umzubringen, wurde er in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Nachdem sich sein Zustand während der folgenden zwei Jahre nicht gebessert hatte, wurde er am 16. April 1921 in das Sanatorium Bellevue des Psychiaters Ludwig Binswanger gebracht. Binswanger dokumentierte in seinen Krankenberichten bei Warburg Wahnvorstellungen, Aggressivität gegen das Personal, Phobien und zwanghafte Hygienerituale. Im Zuge der Behandlung ergaben sich bei ihm auch ausgeglichene Tage, an denen er Besuche seiner Mitarbeiter und Freunde empfangen konnte, obwohl es zunächst nicht zu einer dauerhaften Besserung kam. 1922 begann sein Assistent Fritz Saxl wieder die wissenschaftliche Arbeit mit Warburg, in der Hoffnung, dass sich seine seelische Verfassung dadurch stabilisieren ließe. Auf Drängen der Familie wurde im folgenden Jahr ein weiterer Psychiater, Emil Kraepelin zu Rate gezogen, der die Diagnose Schizophrenie in manisch-depressive Erkrankung änderte. Dies eröffnete Warburg die Hoffnung auf eine Heilung und eine endgültige Entlassung aus der Anstalt. Laut der Einschätzung seiner Ärzte war sich Warburg seiner Erkrankung immer bewusst, er selbst bezeichnete sich als „unheilbar schizoid“, hatte aber auch während der Krankheit immer wieder Phasen von geistiger Klarheit und schöpferischer Produktivität. Erstes Anzeichen einer psychischen Stabilisierung war die Verarbeitung seiner Aufzeichnungen über die Hopi-Indianer. Zusammen mit Saxl arbeitete er einen Vortrag über das „Schlangenritual“ der Hopi aus, den er am 21. April 1923 vor Patienten und Ärzten des Bellevue hielt. Im nächsten Jahr kam es in Bellevue zu einer Reihe von intensiven Gesprächen mit dem Philosophen Ernst Cassirer über die Tragfähigkeit seiner Methode einer „kulturpsychologischen Geschichtsauffassung“. Warburg erlebte in Cassirer und in Saxl verständnisvolle, einfühlsame und gleichrangige Gesprächspartner, die möglicherweise ebenso wie die freundschaftliche und vertrauensvolle Beziehung zur Familie Binswangers und das besondere Umfeld von Binswangers Klinik zu einem Prozess der Selbstheilung bei Warburg beigetragen haben.
Verfasser*innenangabe:
Ludwig Binswanger ; Aby Moritz Warburg
Jahr:
2007
Verlag:
Berlin, Diaphanes Verlag
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Systematik:
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PI.BF
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ISBN:
978-3-03-734008-0
2. ISBN:
3-03-734008-8
Beschreibung:
1. Aufl., 272 S. : zahlr. Abb.
Mediengruppe:
Buch