„Zwischen medizinischer Behandlung einer Krankheit und psychiatrischer Feststellung einer Geisteskrankheit ist der Unterschied der gleiche wie zwischen einer Wirklichkeit und einer Metapher.“ (Thomas Szasz)
Vor 50 Jahren sorgte Thomas Szasz mit seinem Buch „The Myth of Mental Illness“ für Aufruhr. Es stellte das komplette Selbstverständnis der Psychiatrie als humanmedizinische Wissenschaft in Frage. Ob jemand psychisch „normal“ oder „verrückt“ sei, sei eine willkürliche Definition, so Szasz. Anders als bei somatischen Erkrankungen, finden sich für einen Großteil der psychiatrischen „Krankheiten“ keine eindeutigen Ursachen. Die Abgrenzung von Normalität und Verrücktsein dient lediglich dazu, gesellschaftlich anerkannte Normen durchzusetzen. Psychiatrie gilt Szasz als Machtmittel zur Ausgrenzung Andersdenkender.
Dabei plädiert Szasz nicht für eine Abschaffung der Psychiatrie. Diese sollte sich jedoch von ihrer medizinischen Herkunft und dem Anspruch auf objektive Diagnosen lösen. Psychiatrie soll sich mit Regelbefolgungen, mit gesellschaftlichem „Spielverhalten“ und Zeichennutzung befassen; mit moralischen Aspekten und ethischen Werten des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Szasz’ Thesen provozierten Anfang der 1960er Jahre weltweit lebhafte Diskussionen. Die erweiterte deutsche Neuauflage seines revolutionären Werkes hat nichts von ihrer Aktualität eingebüßt.
/ AUS DEM INHALT: / / /
Vorwort zur deutschen Neuausgabe 9
Vorwort 13
Fünfzig Jahre nach The Myth o f Mental Illness 13
Einleitung 34
Methoden der Beobachtung und des Handelns
in der Psychiatrie 35
Kausalität und Historizismus i n
der modernen Psychiatrie 37
Psychiatrie und Ethik 41
Hysterie als Paradigma psychischer Krankheit 42
Die Erfindung der Geisteskrankheit 44
Teil 1: Mythos Geisteskrankheit 47
I ENTSTEHUNG UND STRUKTUR DES MYTHOS 4 8
1 Charcot und das Problem der Hysterie 4 8
Charcot und die Hysterie 4 8
Ist jede Form von Leiden Krankheit? 53
Die Janusköpfigkeit der Psychiatrie 56
Die Definition der Hysterie als Krankheit: eine Strategie 6 0
2 Krankheit und vorgetäuschte Krankheit 6 3
Die Logik der Klassifizierung 63
Über die Bedeutung der Wörter "echt" und "falsch" 6 4
Krankheit, vorgetäuschte Krankheit und die Rolle des Arztes . . . 65
Die Veränderung von Verhaltensregeln und
die Neuklassifizierung des Verhaltens 68
Simulantentum als psychische Krankheit 72
Abschließende Ausfuhrungen zu Objekten
und ihrer Repräsentation 75
5
Inhalt
3 Der soziale Kontext der medizinischen Praxis 79
Liberalismus, Kapitalismus und Individualismus
des 19. Jahrhunderts 8 0
Die heutige Gesellschaft und die Struktur
ihres Gesundheitswesens 85
Die Medizin in der Sowjetunion 9 0
Die Bedeutung der Privatsphäre in der Beziehung
zwischen Arzt und Patient 94
Der Arzt und die Armen 95
Die medizinische Versorgung als Form sozialer Kontrolle 97
II HYSTERIE: EIN BEISPIEL FÜR DEN MYTHOS 1 0 0
4 Breuers und Freuds Studien über Hysterie 100
Der historische Rahmen 100
Eine erneute Überprüfung der Beobachtungen 101
Eine erneute Überprüfung der Theorie 104
Zusammenfassung 107
5 Hysterie und psychosomatische Medizin 109
Konversion und Psychogenese 109
Konversion und Organneurose 115
Energiekonversion und Sprachübersetzung 120
6 Heutige Ansichten über Hysterie und
psychische Krankheiten 123
Psychoanalytische Theorien 124
Organizistische Theorien 129
Teil 2: Grundlagen einer Theorie
des persönlichen Verhaltens 133
I I I SEMIOTISCHE ANALYSE DES VERHALTENS 1 3 4
7 Sprache und Protosprache 134
Die Struktur der Protosprache 134
Die Funktion der Protosprache 140
6
Inhalt
Symbolisierung in der Hysterie: kritische Untersuchung
eines Beispiels 148
8 Hysterie als Kommunikation 152
Diskursive und nichtdiskursive Sprachen 152
Die Nichtdiskursivität der Hysterie 155
Die informationelle Funktion ikonischer Körperzeichen 156
Hysterie, Übersetzung und Fehlinformation 158
Sprache als Mittel der Kontaktaufnahme zu Objekten 160
Hysterie als indirekte Kommunikation 163
Die Schutzfunktion indirekter Kommunikationen 166
Träumen und Hysterie als Andeuten 167
Hysterie: von der Krankheit zum Idiom 170
I V ANALYSE DES VERHALTENS ALS REGELGELEITET 1 7 3
9 Menschliches Verhalten als regelgeleitetes Verhalten 173
Motive und Regeln 173
Natur und Konvention - Biologie und Soziologie 175
Regeln, Moral und Psychoanalyse 176
Regeln und Verantwortlichkeit 178
Regeln und Anti-Regeln 179
Eine Klassifikation von Regeln 181
Weshalb Regeln notwendig sind 184
10 Die Ethik der Hilflosigkeit und Hilfsbereitschaft 187
Biblische Regeln fördern Unzulänglichkeit und Krankheit 190
Einige historische Aspekte der Umkehr von Regeln 196
Die Ethik des Paternalismus und "Therapeutismus" 199
11 Theologie, Hexerei und Hysterie 206
Die medizinische Theorie der Hexerei 207
Die Sündenbocktheorie der Hexerei 211
Theologische und medizinische Spiele des Lebens 217
V VERHALTENSANALYSE NACH DEM SPIELMODELL 2 2 3
12 Das Spielmodell menschlichen Verhaltens 223
Menschliche Handlungen als Spiele 223
7
Inhalt
Eine logische Hierarchie der Spiele 227
Persönlichkeitsentwicklung und moralische Werte 232
13 Hysterie als Spiel 236
Interpersonale Strategien in Zusammenhang
mit der Hysterie 236
Ein Beispiel zur Veranschaulichung des Hysteriespiels:
Sullivans "hysterische Dynamik" 241
Lügen - eine spezifische Strategie innerhalb der Hysterie 245
Unsicherheit und Kontrolle im Spielverhalten 248
Über die Veränderung des hysterischen Spiels 250
Zusammenfassung 251
14 Impersonation (Identitätsnachahmung) und Krankheit 253
Impersonation und Rollenadaptation 253
Das Ganser-Syndrom 260
Angenommene, nachgeahmte und authentische Rollen 262
Die psychiatrische Beglaubigung einer im Sinne der
Impersonation angeeigneten Rolle als authentisch 265
Zusammenfassung 267
15 Die Ethik der Psychiatrie 272
Objektbeziehungen und Spielmodell 272
Psychoanalyse und Ethik 277
Psychiatrie als soziales Handeln 281
Zum Abschluss 283
Epilog 285
Zusammenfassung 288
Anhang 1 290
Geisteskrankheit ist immer noch ein Mythos 290
Anhang 2 304
Die Definition von Krankheit 304
Literatur 319
Über den Autor 331