Diese erste deutschsprachige Studie zu Freuds Entwurfs-Manuskript nimmt sowohl die historische Konstellation seiner Niederschrift 1895 als auch die seiner posthumen Publikation 1950 in den Blick. Sie rekonstruiert die disparaten Diskurse, die dieses eigenwillige, dichtgewebte Fundament der Psychoanalyse durchkreuzen: die Experimentalisierung des Lebens, die Debatte um den psychophysischen Parallelismus, den Briefwechsel Freuds mit Wilhelm Fließ etc. Außerdem geht sie den Wirkungen nach, die diese Schrift ein halbes Jahrhundert später entfaltet. Hier widmet sie sich vor allem Lacans Seminar von 1953, dessen Aufnahme der Kybernetik und der Mathematik sie nachzeichnet, wobei nicht nur die Konsequenzen dieses Wechsels der Bezugswissenschaften (als welche bei Freud noch die Neurologie fungierte), sondern auch bisher unbekannte Quellen Lacans aufgezeigt werden. Die bislang wenig beachtete Tatsache, dass Freud den Entwurf an seinen langjährigen Briefpartner W. Fließ sandte, ohne ihn je zurückzuverlangen, bildet den Ausgangspunkt für die These des Buches: Der Entwurf ist als ein Brief zu lesen bzw. zugespitzt mit Lacans Interpretation von E. A. Poes Erzählung The purloined letter ein entwendeter Brief aus den Anfangsjahren der Psychoanalyse."18. Mai 2005 Mit der Erschütterung unseres Selbstverständnisses durch die Psychoanalyse, die von Sigmund Freud um 1900 ausgelöst worden ist, hat sich die Spalte des Unbewußten aufgetan, die uns bei jeder Fehlleistung aufs neue zu verschlingen droht. Doch die Geschichte der Psychoanalyse ist selbst von zahlreichen Fehlleistungen geprägt, allen voran versäumten oder verspäteten Editionen und falsch adressierten Briefen. Wer in ihren Archiven gräbt und die darin sedimentierten Schichten abträgt, wird auf zahlreiche historische Verwerfungen stoßen, deren Nachbeben uns gerade erst in Atem zu halten beginnen. So ist ihre Frühgeschichte am spätesten bekanntgeworden: Erst 1950 wurde ihr eigentliches Gründungsdokument, der 1895 in mehreren Briefen an den Berliner Spezialisten für Hals- und Nasenleiden Wilhelm Fließ geschickte sogenannte "Entwurf einer Psychologie", in einer unzulänglichen Edition publiziert, die - bezeichnenderweise im "Nachtragsband" zu den Gesammelten Werken - 1987 mehr oder weniger verbessert wurde. Der "Entwurf" läßt Freuds physiologische Annahmen über unsere Seele als "psychischen Apparat" (Neuronen) und die psychologischen Schlußfolgerungen, die er daraus zieht (Neurosen), so unvermittelt aufeinanderprallen, daß ihre Funken über Freud hinaus den Motor der psychoanalytischen Bewegung noch immer antreiben. In diese verworrene Lage greift die Berliner Wissenschaftshistorikerin Mai Wegener mit ihrem Buch "Neuronen und Neurosen" ebenso ordnend wie erhellend ein, indem sie die historische Perspektive umkehrt. Ihre leicht "ver-rückte" Argumentation ergibt sich aus der Rückwendung der Tatsache, daß aufgrund der verspäteten Edition erst der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan Freuds "Entwurf" in seinem Seminar über "Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse" 1955 in seiner Brisanz zum Leben erweckt hat, und zwar, indem er seine mathematisch formalisierbare Dimension beim Wort genommen hat. Tatsächlich ist unser Unbewußtes in Lacans Augen nach seinem sprichwörtlich gewordenen Diktum zwar strukturiert wie eine Sprache, aber wie die Sprache, die alle natürlichen Sprachen als Relationsgefüge ihrer syntaktischen Verhältnisse bis auf die Knochen ihres Skeletts mazeriert: die Mathematik. Unter diesen Vorzeichen von Wegener an Freud zurückgeschickt, erweist sich der Brief an Wilhelm Fließ als Zeugnis für die Psychoanalyse als Herausschälung des Symbolischen: "Inmitten einer Kultur der Schaltungen behauptet sie, daß sich nicht alles schaltet." Im zweiten, ungleich weniger originellen Teil ihres Buches erörtert Mai Wegener unter den drei Stichwörtern "Paris", "Wien" und "Berlin" im Krebsgang zurück von Lacan die Entstehungsbedingungen von Freuds "Entwurf". Paris: Noch einmal zappeln die von Jean-Martin Charcots hypnotisch geführten Gliederpuppen Augustine, Blanche Wittman oder Geneviève an den medientechnisch durch die Erfindung der Serienphotographie gestählten Drähten dieses Puppenspielers, damit Freud sie durch seine talking cure, also durch die Heilkraft des Wortes, aus dessen suggestivem Bann erlösen kann. Wien: Dabei stößt er auf den erbitterten Widerstand der neurologischen Zunft, allen voran des einflußreichen Gegners Theodor Meynert, der dem materiellen Substart unserer Nerven kein psychologisches Eigenleben einräumen wollte. Berlin: Wilhelm Fließ dagegen hat für Freud lange Zeit den - ihm selbst in Zukunft vorbehaltenen - Platz des Analytikers eingenommen, dem der Analysand als Voraussetzung seiner Selbstbegegnung ein ihm selbst fehlendes Wissen unterstellt." FAZ MARTIN STINGELIN
INHALT
EINLEITUNG .............................................................................................. 91 . ZUR EIGENTUMLICI-IEN STELLUNG DES ENTWURFS -FREUDS APPARAT UND DIE MASCHINE BEI LACAN ...................... 15Die Konstellation 1895 - der Entwurfals Brief und als Rebus ...................................................................... 15Was ist ein Apparat ? ............................................................................. 21Die Konstellation 1950 - die Publikation des Entwurfs ............ 25Der Einsatz der Maschine bei Lacan ...................................................... 29Was ist eine Maschine? -- Guilbaud und La?tte als Quellen Lacans ..... 32Graphische Korrespondenzen ................................................................. 372. DIE 'ENTWENDUNG' DER BRIEFE ..................................................... 43Zur Geschichte des Entwurf-Manuskriptszwischen 1895 und 1950 .................................................................. 433. NACH 1950: LACANS SCHREIBSPIEL (11576 ODERWIE EINEN ENTWENDETEN BRIEF AUFFINDEN? ............................. 47Der Entwurf und La lettre volée ...................................................... 48Einführung in die Kombinatorik 011378 ........................................... 52Lacan und die Mathematik ............................................................... 54Exkamation des Symbolischen ....................................................... 58Lacans Mathematik ............................................................................ 61,,Une véritable intoxication par les mots" ..................................... 62Eine Schrift .......................................................................................... 66Bin Mathem ......................................................................................... 67Die Konstruktion von (1875 .............................................................. 69+ - .......................................................................................................... 69Drei Geschichten: ............................................................................... 701. Fort - Da ............................................................................................ 702. Even and odd ...................................................................................... 713. Science ?ction: Die Geschichte der Konjekturalwissenscha?en ....... 741, 2, 3 .................................................................................................... 8004578 ....................................................................................................... 83Papiertiger ............................................................................................ 86Wie einen entwendeten Brief auf?nden? ...................................... 91. ,,IM ZWISCHENREICH" - LEKTURE DES ENTWURFS ....................... 99Das Sujet des Entwurfs ..................................................................... 103Korrekturen zur Transkription ......................................................... 104(we) ....................................................................................................... 105Die Vorgänge im Apparat ................................................................ 111Die Urszene Oder die Verteilung der Wahrnehmung .................. 112,,Die Realität ist prekär" .................................................................... 117. VOR 1895: DIE GEBURT DES ANDEREN SCHAUPLATZESAUS DER HYSTERISIERUNG DER MEDIZIN ...................................... 123Einleitende Bemerkung: Paris - Wien - Berlin .......................... 123Paris ...................................................................................................... 127Charcots 'Pathologie' ........................................................................... 128Freuds Euphorisierung -- ,,ein neuer Anfang der Existenz" ................... 130Der Aufritt der Sphinx auf der Bühne der Medizin ............................... 132Hysterie und Hypnose ............................................................................ 134Der große Anfall .................................................................................... 135Charcots ,,Kunstprodukte" ..................................................................... 137,,Das ist die Wahrheit" ........................................................................... 138Repräsentationsstrategien zwischen technischer Avantgardeund Klassik ............................................................................................. 140INHALT 7Eine hybride Wissenschat ..................................................................... 143,,Ca n'empéche pas d'exister" ................................................................ 144Der Visuel und der Auditiv .................................................................... 147Le discours du maitre ............................................................................. 148Wien ...................................................................................................... 151Die gegnerische Autorität Meynerts ....................................................... 151Experimentell erzeugter Blödsinn .......................................................... 154,,Wie wenn ein Wilder aus dem Schidel des Feindes Met trink " -Freud und der Lokalisationismus ........................................................... 157Die Entanatomisierung des Sprachapparates in FreudsAphasieschri? ......................................................................................... 1 58Das Alphabet des Realen ........................................................................ 160Exkurs zum psychophysischen Parallelismus ........................................ 162Die Neuronen im Entwurf- eine Maskerade ......................................... 168Berlin .................................................................................................... 171Wilhelm Fließ und die ,,Ber1iner Atmosphäre" ...................................... 171Der Repräsentant des 'Anderen' ............................................................ 172Die Adressierung des Entwurf ............ 175,,Du hieltest die Zügel der Sexualität in der Hand" ................................ 176,,Deine überlegene naturwissenschaftliche Bildung" ............................. 183Fließ' Mathematik .................................................................................. 184Zur epistemischen Stellung von Fließ' Arbeiten .................................... 185Die lierlz'ner Physikalische Gesellschaft und die Lebenskraft ............... 190Die Öffnung des anderen Schauplatzes .................................................. 1936. SCHLUSSBEMERKUNG ........................................................................ 195ABKURZUNGEN ........................................................................................... l 97LITERATUR .................................................................................................. 1 99DANKSAGUNG ............................................................................................. 2 1 3
Verfasser*innenangabe:
Mai Wegener
Jahr:
2004
Verlag:
Paderborn, Fink
Aufsätze:
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Systematik:
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PI.BP
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ISBN:
3-7705-4003-4
Beschreibung:
214 S. : graph. Darst.
Schlagwörter:
Entwurf einer Psychologie, Freud, Sigmund, Lacan, Jacques, Rezeption, Aneignung <Rezeption>, Fortwirken, Frejd, Zigmund, Freud, Siegmund, Freud, Zikmund, Fuluoyide, Xigemengde, Furoido, Jigumundo, Nachleben, Nachwirkung <Rezeption>, Wirkungsgeschichte
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Fußnote:
Zugl.: Berlin, Humboldt-Univ., Diss., 2001
Mediengruppe:
Buch