(I-18/18-C3) Bestsellertitel
Wiesinger erzählt von ihren Schülerinnen und Schülern: Jugendliche aus benachteiligten, bildungsfernen Verhältnissen allesamt. In deren Leben, mangels anderer Perspektiven, der Islam (bzw. das, was ihre Familien dafür halten) eine immer größere Rolle spielt. Sie erzählt, wie sich Kinder bemühen, im Alltag 'haram' und 'halal' penibel auseinanderzuhalten und andere deswegen zurechtweisen. Sie erzählt vom Überlegenheitsgefühl, das für manche daher rührt, ein möglichst 'guter Muslim' zu sein. Von der Angst vor Strafen. Und von der Abwehr gegen Themen, die als 'unislamisch' gesehen werden - Lieder, Literatur, Selbstbestimmung, Sexualität. --- Wiesingers erster Wunsch lautet: ein gemeinsamer Unterricht, der die religiösen, ethischen, demokratischen und rechtlichen Grundlagen unseres Zusammenlebens behandelt. Anlässlich des islamischen Opferfests erzählte sie ihren Schülern einmal, wie sehr sie sich als Kind fürchtete, als sie die biblische Geschichte von Isaak hörte. Ein Gott, der vom Menschen verlangt, seinen eigenen Sohn zu opfern? Wie grausam muss der sein! Erst staunten die Schüler, dass die ungläubige Lehrerin die Geschichte überhaupt kannte - sie hielten sie für eine exklusiv islamische. Dann konnten sie darüber reden, dass die Geschichte bei ihnen ähnliche Gefühle auslöste. "Wir haben so viel Gemeinsames. Warum weiß das niemand? Warum nützen wir das nicht?", sagt die Lehrerin. Diese Art Ethikunterricht müsste der Verantwortung der Religionsgemeinschaften entwunden werden. Er müsste grundsätzliche, verbindende Fragen stellen: Aus welchen kulturellen Traditionen speisen sich unsere Normen und Regeln, wie verändern sie sich? Wo gibt es Ähnlichkeiten zwischen religiösen Geboten und weltlichen Gesetzen, und wie geht man mit Spannungen um? --- Zweiter Punkt auf Wiesingers Wunschliste ist: die Ganztagsschule. Mit breiten verpflichtenden Aktivitäten aus Sport, Musik, Kultur, Natur - und zwar für alle. Viele Lehrer und Lehrerinnen in Brennpunktschulen berichten, wie eng das Erfahrungsfeld vieler ihrer Kinder ist. Über das Grätzel, den Park, den Supermarkt und die Moschee reicht es oft kaum hinaus. Die Kontakte vieler Eltern sind auf die eigene ethnische Community begrenzt. Geld ist knapp, und dazu kommen noch die selbst auferlegten Einschränkungen, die religiös argumentiert werden - die Ablehnung von Musik, Biologie oder 'unmoralischen' Büchern, die Skepsis gegenüber gemeinsamen Aktivitäten von Burschen und Mädchen. Was nicht nur die intellektuelle, sprachliche und soziale Entfaltung behindert, sondern auch Lebensentscheidungen und Berufswahl. --- Vielen Lehrkräften in Wiener Schulen fehlt es noch an interkultureller Kompetenz.. Mehr Diversität im Lehrerzimmer, mehr Kolleginnen und Kollegen mit verschiedensten Sprachkenntnissen, mit Migrations- oder auch eigenen Diskriminierungserfahrungen wäre hilfreich. "Vor allem liberale Muslime oder Ex-Muslime sind viel zu wenig präsent", sagt sie. "Wer manche Konflikte der Schüler aus seiner eigenen Biografie kennt, kann mit ihnen gleich viel glaubwürdiger diskutieren." Spezielle Kompetenz kann sich Schule selbstverständlich auch von außen holen - von Vereinen, die zu Themen wie Sexualität, Gewalt, Selbstbestimmung oder Geschlechterrollen Workshops abhalten. Ins Herz des Themas zielen hier etwa die 'Heroes', die sich mit dem fehlgeleiteten Ehrbegriff in patriachal-muslimisch geprägten Milieus auseinandersetzen. Vor einigen Jahren war 'Heroes' schon knapp davor, an Wiener Schulen mit der Arbeit zu starten. Im letzten Moment hingegen entzogen Bildungsministerium und Stadtschulrat dem Projekt die finanzielle Unterstützung, ohne Angabe von Gründen. Offenbar hatte die Regierung auf die konservativen Islamverbände gehört, denen die 'Heroes' ein Dorn im Auge sind. --- Was wäre denn das Allerwichtigste, Frau Wiesinger? Darüber muss die Lehrerin nicht lang nachdenken. "Durchmischung", sagt sie. "Kinder jeder sozialen Herkunft müssen miteinander in die Schule gehen. Denn all die Probleme, von denen wir sprechen, haben wir ja überhaupt nur, weil es keine Durchmischung gibt." In Wien, wo etwa die Hälfte aller Kinder nach Ende der Volksschule in eine AHS-Unterstufe wechselt, bleibt den Mittelschulen nur die bildungsfernere, ärmere und mit sozialen Problemen schwerer beladene Hälfte der Bevölkerung. Drei Viertel dieser Kinder sprechen daheim nicht deutsch, 40 Prozent sind Muslime. Eine 'unsichtbare Hand' sorgt für noch weiter gehende Sortierung, verstärkt durch Ablehnung und Diskriminierung an attraktiveren Standorten. Bis es am Ende, in einigen Stadtvierteln und an einigen Schulen, so weit kommen kann, dass Muslime quasi unter sich bleiben und Möchtegern-Glaubenskrieger den Ton angeben. "Gäbe es rundherum eine Mehrheit von Kindern mit anderen Lebensstilen, hätten die doch gar keine Chance, alles zu dominieren!", sagt Wiesinger. Es sei im gesamtgesellschaftlichen Interesse, dass wir diese Abschottung aufbrechen, ist die Lehrerin überzeugt. Die Behörde müsse die freie Schulwahl der Eltern einschränken und schon bei der Einschreibung auf die Durchmischung achten, "da ist es durchaus zumutbar, dass ein Kind zwei Stationen mit der Straßenbahn in die Schule fährt". Selbstverständlich ist Wiesinger eine Verfechterin der gemeinsamen Schule der Zehn- bis 14-Jährigen. Sie will dabei auch die Privatschulen in die Pflicht nehmen: "Die werden mit öffentlichem Geld finanziert, da müssen sie auch ihren Teil der öffentlichen Aufgaben übernehmen und Kinder aus unterprivilegierten Verhältnissen aufnehmen." Und schon im Kindergartenalter müsse man mit dieser Integrationsaufgabe anfangen. "Dass Wien so viele private Kindergärten erlaubt hat, war die Wurzel vieler Probleme. Das gesamte Bildungssystem gehört in die öffentliche Hand. Am besten mit einer richtigen Schulpflicht, ganztags, ab vier Jahren." --- Das alles wird viele überraschen: Die Rechten, die unter Wiesingers Fahne eigentlich in den Kulturkampf 'gegen die Ausländerkinder' ziehen wollten. Die Wiener SPÖ, die die 'gemeinsame Schule' zwar seit Jahrzehnten in ihrem Parteiprogramm hat, aber nicht wagt, sie mit Nachdruck umzusetzen - aus Angst vor Eltern und Wählern. Die muslimischen Verbände, die zwar wortreich Diskriminierungen beklagen, aber oft ganz gern unter sich bleiben. Und die vielen aufgeklärten Linken, die ihre Kinder in alternative Schulen schicken und klammheimlich gehofft hatten, 'gesellschaftliche Integration' ginge sie persönlich gar nichts an. --- Es war wahrscheinlich nicht die beste Idee, dieses Buch bei Edition QVV erscheinen zu lassen - dem eben erst gegründeten Verlag von Quo Vadis Veritas. Schon seit längerem befindet sich das Medienhaus von Servus TV ja - speziell mit 'Talk im Hangar' oder der Kolumne 'Der Wegscheider' - in einem erbitterten Kulturkampf gegen 'Gutmenschen', Linke und das angebliche Diktat der 'politischen Korrektheit'. Aus Lesersicht scheint es, als habe diese Kulturkampf-Rhetorik von Herausgeberseite auf Susanne Wiesingers Buch abgefärbt. Dem wichtigen Thema tut dieser Tonfall nicht immer gut. Schon auf dem Cover ist von 'dem Islam' die Rede. Von der 'Kluft zwischen uns und vielen Muslimen', von 'wir' und 'den anderen', von 'Unterwerfung'. Manchmal schlägt ein resignativer Ton durch, der klingt, als sei der Untergang unserer Zivilisation bereits besiegelt: "Wir sind ohnmächtig. Oft denke ich: Die haben gewonnen und wir haben verloren." Einher geht diese Düsternis mit einer tiefen Enttäuschung der 'entwurzelten Linken' Wiesinger über ihren Dienstgeber, den SPÖ-dominierten Stadtschulrat, sowie über die Lehrergewerkschaft. Lohnender sind die Passagen, in denen Wiesinger aus ihrem schulischen Alltag berichtet. Da spürt man, wie sehr sie ihre Schüler und Schülerinnen mag. Sie findet Zugang zu ihnen - speziell dann, wenn sie mit ihnen über Persönliches spricht. Sie spürt ihre Ängste, ihren Trotz, erkennt ihr Potenzial und verzweifelt daran, dass es nicht gehoben werden kann. "Sehr viele muslimische Kinder sind innerlich zerrissen", schreibt sie. "Einerseits wird ihnen von der Community eingeredet, wie überlegen sie aufgrund ihres Glaubens sind, andererseits werden sie von uns mit ihrem schulischen Misserfolg konfrontiert. Natürlich sorgt das für innere Unruhe, für gewaltige Spannungen." Dazu käme noch die ausländerfeindliche Stimmung im Land, durch die sie sich "zu Unrecht kritisiert und an den Rand gedrängt" fühlen. Eine höchst vielschichtige Problemlage steckt hier drin. Pubertäts- und Loyalitätskonflikte, Sprachlosigkeit, Fragen des Selbstwertgefühls, der ökonomischen Verhältnisse und des Patriarchats. Man hätte von der Lehrerin gern noch mehr individuelle Geschichten gelesen, um das in aller Komplexität nachzufühlen. Doch kann man das alles pauschal einfach unter "der Islam" subsumieren? (Aus: Falter, 21.9.2018)
INHALTSVERZEICHNIS / / Vorwort 6 / Einleitung 9 / Warum ich nicht mehr schweigen kann 14 / Wie sich der Unterricht verändert hat 23 / Diktierte Moral 51 / Islamischer Religionsunterricht 57 / Kleidungspolizei 64 / Gefangen in der Familie und im Glauben 74 / Sprachlosigkeit 87 / Zwangsverheiratung 95 / Gewalt 101 / Jugendamt 109 / Stadtschulrat 121 / Fortbildung 139 / Lehrergewerkschaft 147 / Was Lehrer brauchen 167 / Nachwort 180 / / Zahlen, Daten, Fakten 184 / Glossar 210