Rezension: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.06.1975, S. BuZ5Thoor, Jesse: GedichteDie deutsche Literaturgeschichte hat eine Reihe von Namenlosen, von Unentdeckten aufzuweisen, denen es nachihrem Tode nicht besser als zu Lebzeiten erging. Es mag mit dem Einzelgängerturn der Betreffendenzusammenhängen, mit der Art, wie sie ihr Leben führten und wie sie schrieben. Jesse Thoor, der als Karl PeterHöfler 1905 in Berlin geboren wurde und am 15. August 1952 im Osttiroler Lienz starb, gehört in diese Reihe.Kaum jemand wird sich erinnern, daß von ihm einmal, 1948, ein Versband veröffentlicht wurde. Der Titel lauteteschlicht "Sonette". Der Autor lebte zu diesem Zeitpunkt noch in der englischen Emigration.Es hat nicht an Versuchen gefehlt, Jesse Thoor und sein dichterisches Werk vorzustellen. Walter Höllerer tat dies1.954 in der Zeitschrift "Akzente". Zwei Jahre später brachte Alfred Marnau eine Auswahl "Die Sonette und Lieder"als Veröffentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung heraus. Und nochmals - zehn Jahre danach- unternahm Michael Hamburger bei der Europäischen Verlagsanstalt in Frankfurt den Versuch, an Höfler/Thoor zuerinnern. Er publizierte eine Sammlung Poesie und Prosa unter dem blassen Titel "Das Werk". Alle diese Versucheblieben ohne Folgen.Nun hat Peter Hamm, wieder in schmaler, sehr begrenzter, aber vorzüglich zusammengestellter, für Thoorcharakteristischer Auswahl, Gedichte des von ihm in einem umfangreichen und weit ausholenden Nachwortanalysierten Autors vorgelegt. Man sollte mit Hamms Nachwort die Lektüre beginnen, denn man darf nichtunvorbereitet sein auf das, was einen als Leser der Thoorschen Gedichte erwartet, die so fast ausschließlich vonWesen und Leben des Verfassers her bestimmt sind. Sie entziehen sich durch Eigenschaften, die ungewohnt sind:durch ihre Leidenschaft, durch Pathos, ja, durch unverkennbare poetische Deklamation. In Jahren, in denen dasLakonische sich durchgesetzt hat und in denen Gedichte sich eher verleugnen, sind die Verse Jesse Thoors etwasvöllig Überraschendes. Hamm bezeichnet Thoor mit Recht in den ersten Sätzen seiner Charakteristik bereits alseinen Mystiker und nennt, was er hinterließ, mit einer starken Kennzeichnung "begnadete Dichtung, die ja stets demUnglück abgepreßt wurde, begnadete Dichtung, wie sie uns, in der exaktesten - also religiösen - Bedeutung desWortes, Jesse Thoor hinterlassen hat".Das Leben Karl. Peter Höflers endete im Sommer 1952 so, wie es begonnen hatte, unter dürftigen Umständen. Erwurde im Januar 1905 in einem Berliner Arbeiterbezirk geboren. Die Eltern waren Steiermärker. Der Vater, einHandwerker, wurde immer mehr zum Industriearbeiter. Der junge Höfler ging als Feilenhauer bei einer BerlinerFirma in die Lehre. Doch die Unruhe seines Lebens setzte früh ein. Es zog ihn nach Österreich, Italien. Als blinderPassagier landete er mit einem Frachtdampfer in Spanien. Er tauchte in Rotterdam unter, verdingte sich alsSchiffsheizer. Später, wieder in Berlin, kam er in Kontakt mit extrem linken Literaturgruppen, schrieb Gedichte, diegelegentlich an Erich Mühsam, mehr noch an Ringelnatz erinnerten. Er wurde Kommunist, aber innerhalb der Parteiblieb er höchst individualistisch und ein unbequemer Mann. Er bekam Ärger und hat es lyrisch so ausgedrückt:"Von meinen ärgsten Feinden aber ich nenne nur drei - das sind die Fabrikanten, und das sind die Pfaffen derPartei." Und natürlich widersetzte er sich dem Nationalsozialismus auf eine lebensgefährlich mutige Weise.Auf Empfehlung Alfred Neumanns und Werfeis erhielt er ein Stipendium in London, wurde dort bei Kriegsbeginninterniert. Er heiratete. Unter schwierigsten Wohnbedingungen ging er seiner Arbeit nach. Er stellte GoldundSilberschmiedearbeiten her, die Hamm beschreibt: "Seltsame Blumen, Kelche und andere religiöse Symbole,Schmuck und Ringe für Bekannte und Freunde, Phantasiestücke, die von erhabener Zartheit und manchmal auchvon großer Wildheit gewesen sein .sollen." Es ist kennzeichnend, daß der grundreligiöse, der mystische MenschJesse Thoor sich an eine solche Arbeit begab, während er sein seltsam isoliertes und eigenwilliges Leben fortführte,kaum korrespondierte und sich immer mehr auch im alltäglichen Umgang einer Sprache hingab, die die Spracheseiner Gedichte war.Hamm stellt fest: "In seinen letzten Lebensjahren konnte er sich buchstäblich nur noch in Gedichten ausdrücken.Daß er sie Reden und Rufe betitelte, ist nicht ohne Bedeutung. Wer sie wirklich verstehen will, muß sie hören, stattsie zu lesen." Die "mystischen Monologe", die er innerhalb und außerhalb seiner Verse führte, gehören hierhin. Dasblieb bis an Thoors Lebensende so. Das Geld, das er sich in England durch seine Schmiedearbeiten verdient hatte,reichte im Sommer 1952 für eine Fahrt nach Österreich. Hier kam der plötzliche Zusammenbruch. In Lienz wurdeer begraben.Die Gedichte sind so sehr "persönliche" Gedichte, an die Individualität des Autors gebunden, daß sie keinen oderfast keinen literarischen Standort haben. Es sind weder "absolute Gedichte", wie Hamm bemerkt (absolut imartifiziellen Sinn), noch einer literarischen Richtung verschriebene Arbeiten. Es sind eher Texte, die wie ein Echovon weither wirken. Solche Echo-Wirkungen versucht der Herausgeber nachzuweisen, indem er stilistischeEinflüsse aus dem Alten Testament und von den christlichen Mystikern (Johannes vom Kreuz) nennt, auchGryphius und den späten Hölderlin. Thoor war Autodidakt. Der Zufall spielte bei der Suche nach dem literarischenVorbild zweifellos eine bedeutende Rolle. Villon und Rimbaud (den er nach- und umgedichtet hat) wären zunennen. Bemerkenswert ist sein Bedürfnis nach strenger Form. Aus diesem Grunde wählte er das Sonett. Es spielt inseiner Dichtung die dominierende Rolle.Der einmal gefundene Ton wird nicht wieder aufgegeben. So verstanden, sind die Arbeiten Jesse Thoorg - trotz dergelösteren, liedhaften Form zuletzt - ohne Entwicklung. Sie kommen auf das zurück, was ihm als literarischeAussage lebensnotwendig wurde. Denn nichts, was von ihm je zu Papier gebracht worden ist, läßt sich in einenlediglich artifiziellen Raum übertragen. Mit seinen Gedichten folgte er einem Zwang, den man archaisch oderanarchisch nennen mag, pathetisch, sakral oder utopisch: seine Unbedingtheit, die durch nichts zu verhinderndeNotwendigkeit wird jede Charakteristik berücksichtigen müssen. Es sind spirituelle Texte. Hamm spricht von der"frommen Utopie". Das Gedicht ist der Gebets-Ersatz eines Gläubigen, der nicht gottgläubig war. In dem frühenText "Am Totenbett der Mutter" wird es ausgesprochen: "Ich glaube nicht an Gott. Es tut mir leid."Die Gedichte sind "Erleuchtungen" der Thoorschen , Vitalität, Ausdruck einer Daseins-Heftigkeit, die alles lediglichLiterarische, hinter sich läßt, vielmehr den eigenen Ausdruck erzwingt und zwanghaft auf ihn zurücckommt, Siehaben eine eigenartige Aura um sich, eine Schutzhülle, etwas Einfältiges und Sublimes zugleich, etwas Entrücktesund Stilles, eine stille Raserei.In der Dichtung dieses Lyrikers gab es nichts Indirektes. Was er versuchte, was ihm gelang, war die direkteUmsetzung seines ergriffenen Wesens in das angemessene Wort, auch in das grelle, das "laute" Wort. Auch dasunscheinbarste liedhafte Gedicht, hatte explosive Kraft, hatte eine Wildheit, die es vermochte, in wenigen Zeilen dieganze Biographie zusammenzudrängen:Ist es so auf Erden? Bin in die Welt gegangen. Habe, mancherlei angefangen. Aber die Leute lachten. Auf demFelde gegraben. Einen Wagen gezogen. Einen Zaun gerade gestellt. Tür und Fenster gestrichen. Warme Kleidergenäht. Hölzerne Truhe gezimmert. Feine Stoffe gewoben.Goldenes Ringlein geschmiedet Was soll nun werden? Werde nach Hause wandern und barfuß ankommen.
Verfasser*innenangabe:
Jesse Thoor. Hrsg. u. mit e. Nachw. von Peter Hamm
Jahr:
1975
Verlag:
Frankfurt am Main, Suhrkamp
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Systematik:
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DD.L
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ISBN:
3-518-01424-2
Beschreibung:
1. Aufl., 107 S. : 1 Ill.
Beteiligte Personen:
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Hamm, Peter
Mediengruppe:
Buch