"Superschau der Seele - Eine 15bändige Psychologie-Enzyklopädie ist das neue Mammut-Werk des Kindler-Verlages. Die beiden ersten Bände sind am Montag letzter Woche erschienen. Was als "Einfall beim Nachtisch" begonnen hat, ist für zwei Verleger nunmehr "der große Versuch, eine menschlichere Gesellschaft sichtbar zu machen".Helmut und Nina Kindler, Großverleger in München und Zürich, wollen das Menschliche auf 15 000 Seiten engbedrucktem Papier in Lexikon-Format vorführen: mit einen 15bändigen Enzyklopädie über "Die Psychologie des 20. Jahrhunderts".Kindlers gigantisches "Jahrhundertwerk" (Verlagsprospekt), von dem jetzt die ersten zwei Bände (2400 Seiten, 4,2 Kilo) erschienen sind, wirkt derart aufwendig, daß es selbst alten Branchen-Hasen die Sprache verschlägt. Von Verlagschef Kindler persönlich dirigierte 13 Herausgeber (Honorar je Band: 15 000 Mark) mühten sich fünf Jahre lang ab: Sie sollten alles, was über das Seelenleben der Menschen erforscht worden ist, erstmals zusammenfassen. Unter dem bislang unbekannten "Koordinator" Gerhard Strube, 28, spannten Kindlers Enzyklopädisten 600 Fachleute aus aller Welt als Buchautoren ein (Kindler: "Zum Teil absolute Spitzenklasse"). Mit ihren Beiträgen sollen sie "den großen Entwicklungslinien in der Psychologie" folgen, den "aktuellen Forschungsstand" der Fachrichtungen referieren und zudem noch "kranken und ratsuchenden Menschen" Hilfe bringen. Mit dieser 15bändigen Super-Schau, die bis Ende 1980 im Vier-Monate-Zyklus ausgeliefert wird, will die Kindler-Mannschaft * die zeitgenössischen Psychologien auf die "europäische Tradition" zurückführen (Band 1); * die Forschungsrichtungen mit sechs ehrwürdigen Theorie-Schulen identifizieren (Bände 2 bis 8); * die "Ergebnisse, Konsequenzen, Anwendungen, Auswirkungen" der Psychologie auf Wissenschaft und Leben des Menschen darstellen (Bände 9 bis 15)."Fachleute genauso wie interessierte Laien" sollen in der Enzyklopädie finden, "was jeder speziell sucht" -- anders läßt sich die Auflage von 10 000, die Kindler zur Kostendeckung braucht, nicht verkaufen. Für sämtliche Honorare wurden 0,8 Millionen Mark veranschlagt, für die Buch-Herstellung allein runde elf Millionen. "Wenn die Auflage gedruckt ist, werde ich 15 Millionen investiert haben", rechnet Kindler vor, "ich gehe finanziell voll auf Risiko." Voller Risiken ist das Geschäft auch für Kindlers Kunden. Denn die müssen die ganze Enzyklopädie für 3960 DM (Subskriptionspreis: 3300 DM) ordern, ohne zu wissen, was sie zu lesen bekommen werden. Von der Auflage werden nämlich 50 Prozent vom Buchversand mit bunten Prospekten ("Mail-Order") angeboten. Wer anbeißt, darf den ersten Band zur Ansicht haben, alles andere ist Vertrauenssache.Für vertrauenswürdig hält sich das im Lexikon-Geschäft bewährte Kindler-Unternehmen (Malerei-Lexikon, Grzimeks Tierleben) sowieso: Zudem ist Nina Kindler diplomierte Psychologin und betreut die hauseigene Fachbuch-Reihe "Geist und Psyche". Ihre Herausgeber-Mannschaft, beteuern beide, bestünde "zum überwiegenden Teil aus kommenden Leuten". Trotzdem fällt gerade den Fachleuten das Vertrauensbekenntnis schwer; sie finden, daß Kindlers Herausgeber-Team "eher einer B-Mannschaft ähnelt, die aufsteigen will" (so ein Psychologe über das Projekt). Tatsächlich haben erst sechs der Jahrhundert-Werker ihre editorischen Talente erprobt -- und dies meist nur im Rahmen der Kindler-Reihe "Geist und Psyche". Was die Herausgeber wortreich im Prospekt versprechen, hält jedenfalls der erste Band (Herausgeber: Heinrich Balmer) nicht. Zwar bringt er auf 1060 Seiten massenhaft Material über den Methodenstreit in der Psychologie aus der Vorkriegszeit zwischen Geistes- und Naturwissenschaftlern. Doch die besten Beiträge sind altbekannt: Man kann sie für billiges Geld anderweitig erstehen -- so in der Kindler-Reihe "Geist und Psyche". Zu den editorischen Ungereimtheiten kommen noch inhaltliche Mängel: Nur mit Nebensätzen und Randbemerkungen abgetan statt als Autoren aufgeboten -- werden zum Beispiel die Psychologie-Kritiken linker Wissenschaftler (wie etwa des Berliner Professors Klaus Holzkamp); die Einflüsse der Kybernetiker und Systemtheoretiker auf die Ganzheitspsychologie; die Trends von der Tiefenpsychologie bis zur Sozialforschung und politischen Theorie. Die wissenschaftlichen Mängel des ersten Bandes, meinen einige Lexikon-Kritiker, würden auch in den folgenden Bänden nicht ausgeräumt werden können. Es sei eben fraglich, ob sich die Psychologie überhaupt enzyklopädisch aufbereiten lasse. Tatsächlich sind gerade die Seelenforscher untereinander zerstritten wie kaum die Gelehrten einer anderen Disziplin. Den Zugang zur Seele haben sie mit gegensätzlichen Theorien gewonnen -- und die Denkweise der Gegner mit Verachtung gestraft. Über diese Schulkonflikte hinausgedacht haben will nun just Hobby-Psychologe Helmut Kindler, dessen Enzyklopädie die zerstrittene Psychologen-Welt neu vereinen soll: "Es geht um die Integration der Einzelwissenschaften." Richtungweisend an Kindlers Friedenswerk ("Wir wollen den Abbau von Feindbildern") ist die Darstellung der verschiedenen Theorie-Schulen -- zum Beispiel der geplante Band über den zu wenig gelesenen Gruppendynamiker Kurt Lewin oder die von Gerhard Steiner veranstaltete Materialsammlung über den berühmten Genfer Entwicklungspsychologen Jean Piaget. Der Spezialist Steiner konnte tatsächlich die internationale Forscher-Elite zur Mitarbeit verpflichten. Deren wissenschaftliche Analysen dürften jedoch für Laien unverständlich sein. Kindlers Psycho-Lexikon ist also ein problematisches Unternehmen, wie alle Enzyklopädien, die nicht nur Datenspeicher sein wollen. Gleichwohl hat das Unternehmen eine gute Chance. Branchenkenner meinen, daß Kindler seine 10 000 Exemplare an Bildungsbewußte losschlagen werde. Der Verleger glaubt das auch: "Gefühl ist wichtiger als Marktforschung." Die Zahl der Vorbestellungen gibt ihm recht, bislang sind es 2536." DER SPIEGEL 44/1976
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Verfasser*innenangabe:
[Planung d. Gesamtwerkes Heinrich Balmer ...]
Verlag:
Zürich, Kindler
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Abweichender Titel:
Die Psychologie des zwanzigsten Jahrhunderts
Fußnote:
Später u.d.T.: Kindlers Psychologie des 20. Jahrhunderts. - Literaturangaben