Siegfried Kracauer (* 8. Februar 1889 in Frankfurt am Main; † 26. November 1966 in New York) war ein deutscher Journalist, Soziologe, Filmtheoretiker und Geschichtsphilosoph. Kracauer ist Autor der ersten empirisch-soziologischen Studie in Deutschland (Die Angestellten) und gilt als einer der Begründer der Filmsoziologie. Kracauers Vielseitigkeit als Autor – Soziologe, Kritiker, Essayist, Feuilletonist, Filmhistoriker, Geschichtsphilosoph – macht eine Zuordnung schwierig. Methodisch und inhaltlich bewegt sich sein Denken jenseits abgegrenzter wissenschaftlicher Disziplinen. Folglich ist seine Einordnung auch in der Rezeption umstritten. Während die einen ihn zumindest in einer „gemeinsamen Konstellation“ mit der Frankfurter Schule verorten (Rolf Wiggershaus)[16] und aufgrund der in den 1920er Jahren vorhandenen Berührungen mit dem Historischen Materialismus im weiteren Sinne dem Marxismus zurechnen (Helmut Stalder)[17], plädieren andere für einen eigenen Platz in der Geistesgeschichte jenseits aller Schulen (Georg Steinmeyer)[18].
Unterschiedliche Schwerpunkte in der Interpretation ergeben sich auch aus der langen Publikationsgeschichte: So waren die Aufsatzsammlungen Das Ornament der Masse (1963) und Straßen in Berlin und anderswo, die Angestelltenstudie sowie das filmhistorische Werk zunächst die einzigen im Nachkriegsdeutschland verfügbaren Texte. Das im Rahmen der ersten, unvollständigen Werkausgabe veröffentlichte Geschichtsbuch (1971), der Georg-Roman (1977) und zahlreiche weitere Aufsätze (1990, 1996, 1997) fanden zunächst weniger Beachtung.
Als unumstritten kann gelten, dass Kracauer in einer Zeit, in der Eindimensionalität und das Denken in geschlossenen Theorien die Regel waren, die Offenheit und Mehrdimensionalität der Perspektive in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellte. Er selbst verwendet den Begriff „Mosaik“ als Umschreibung für sein Wirklichkeitsverständnis. Sein Augenmerk liegt dabei auf den Individuen, denen er auch im Zeitalter hochkomplexer Industriegesellschaften noch die Möglichkeit zum Handeln und zur Initiative einräumt.
Seine scharfe Kapitalismuskritik gewinnt gerade durch ihre Ideologiefreiheit an Gewicht. Kracauer war zudem der erste in Deutschland, der die Massenkultur und insbesondere den Film als Gegenstand soziologischer Untersuchungen entdeckte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass er die moderne Massenkultur nicht im Sinne einer elitär-radikalen Kulturkritik pauschal verwirft; vielmehr schwingt in seinen Analysen immer auch Faszination und Verständnis für das menschliche Bedürfnis nach Zerstreuung mit. „Der Prozess der Aufklärung geht mitten durch das Massenornament hindurch“: Auch diese moderne Kultur hat für ihn ihr Recht und ihre Notwendigkeit.
Kracauers Herangehensweise ist integrierend, nicht abspaltend: Sie zielt darauf ab, den ganzen Menschen und die ganze Welt mitzunehmen: „Nichts darf je vergessen werden und nichts, was unvergessen ist, darf ungewandelt bleiben“ (Kracauer an Bloch 1926). In einer Zeit, in der angesichts der vielen Krisen die Versuchung, einfache Antworten in Form geschlossener Denksysteme und Ausgrenzungen zu suchen, wieder wachsen könnte, kommt differenzierten Stimmen wie der Kracauers eine wichtige Rolle zu. Die derzeit bei Suhrkamp erscheinende Gesamtausgabe und mehrere wissenschaftliche Neuerscheinungen belegen ein wachsendes Interesse an seinem Werk.
Verfasser*innenangabe:
Siegfried Kracauer. Hrsg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke
Verlag:
Frankfurt am Main, Suhrkamp
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Systematik:
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ISBN:
978-3-518-58330-2
2. ISBN:
3-518-58330-1
Sprache:
Deutsch
Fußnote: