Die Falldarstellung ist nach wie vor die gebräuchlichste Form, in der Psychoanalytiker von ihren Behandlungen Rechenschaft ablegen und sie zur Diskussion stellen. Band 73 des Jahrbuchs der Psychoanalyse beleuchtet die ästhetischen Aspekte der psychoanalytischen Falldarstellung. Mit welchen Mitteln verwandelt ein Analytiker/Autor die mit dem Analysanden erlebte, gedeutete, mit Kollegen besprochene, durch Lektüre angereicherte, vielfach durchdachte Dynamik der analytischen Begegnung in einen Text? Der präsentierte Fall ist niemals nur Dokumentation, er ist immer auch Konstruktion und Fiktion. Anhand von Materialien wird ein Zusammenhang, ein Prozess, ein Verlauf konstruiert, der verschiedenen Mustern folgen kann (z.B. "Entwicklung", "Oszillieren", "Wendepunkte"). Welche Rolle spielen dabei das Erzählen und das Verdichten? Wie wird die Zeitstruktur organisiert? Werden wörtliche Stundenprotokolle, typische oder einmalige Sequenzen des Behandlungsverlaufs ausgewählt? Nicht zuletzt offenbart sich in diesen unterschiedlichen Formen auch, wie der Behandler die Behandlung konzeptualisiert, welche expliziten und impliziten Theorien er verwendet.
Inhalt:
Themenschwerpunkt:
Charles Mendes de Leon: Die psychoanalytische Fallgeschichte - ein Fragment
Abstract
Die Arbeit gliedert sich in einen einführenden Essay und eine ausführliche Fallgeschichte, "Sonjas Welt". Zunächst erläutert der Autor ein mögliches belletristisches Selbstmissverständnis Freuds. Anschließend wird die psychoanalytische Falldarstellung als eine nicht-fiktionale Erzählung aufgefasst und diskutiert. Von einigen erzähltheoretischen Begriffen ausgehend, erörtert der Autor das Verhältnis von Inhalt und Form einer Fallgeschichte. Der Akzent liegt auf der Einzigartigkeit des Erlebens beider Protagonisten des analytischen Paars. Die Schreibstrategie des Analytikers versucht, mit bestimmten narrativen Elementen diese Singularität im Text zum Klingen zu bringen.
Sebastian Leikert: Im Geäder der Worte, Transfusion einer sensiblen Substanz - Zur Struktur und Funktion ästhetischer Mechanismen im psychoanalytischen Fallbericht
Abstract
Der Autor zeigt, dass die Frage der ästhetischen Dimension der Falldarstellung ins Herz des psychoanalytischen Wissenschaftsbegriffs führt. Wenn Freud sagt, dass sich seine Fallstudien wie Novellen lesen, impliziert dies, dass der psychoanalytische Typus von Wissen nicht mit den Forschungsmethoden anderer wissenschaftlicher Felder gefunden werden kann. Weder Psychologie, mit ihren statistischen Methoden, noch Religion oder Philosophie versuchen, dem menschlichen Subjekt in seiner Einmaligkeit gerecht zu werden. Im Gegensatz dazu ist Kunst ausschließlich an Einzigartigkeit interessiert. Kunst und Psychoanalyse verwurzeln sich in dem gleichen emanzipatorischen ethischen Impuls und suchen die Einzigartigkeit des menschlichen Subjekts zu repräsentieren. Abgesehen von dieser ethischen Ausrichtung sucht die Fallgeschichte in zwei weiteren Momenten ästhetisch zu sein. Zunächst sucht sie die berichteten Vorgänge in einer lebhaften und anschaulichen Sprache zu schildern. Wie die Literatur lädt sie den Leser ein, ein ko-kreativer Teilnehmer der berichteten Szene zu werden. Dann bedeutet ›Aisthesis‹ im Griechischen ›Wahrnehmung‹. Im Bereich des Ästhetischen wird Bedeutung durch die innere Organisation der Wahrnehmungsfiguren erreicht, so ist etwa Musik eine Organisation des akustischen Wahrnehmungsfeldes. Nonverbale, d. h. kinästhetische Dimensionen spielen im therapeutischen Geschehen eine bedeutsame Rolle und sollten im Fallbericht geschildert werden. Diese Überlegungen werden anhand einer Falldarstellung von Steven Knoblauch (2000), der die musikalische Dimension des therapeutischen Dialogs heraushebt, diskutiert.
Rolf-Peter Warsitz: "Die freie Assoziation ist nicht nur eine Erzählung" - Über einige Formen des Sprechens in der Psychoanalyse
Abstract
Der Autor geht von zwei etablierten Formen des Sprechens im und über den psychoanalytischen Prozess aus und entwickelt sie weiter. Die novellistische Form begründet sich auf Freud, das Konzept der Verbatim-Protokolle bzw. der objektiven Interaktionsgeschichte sollte die zu wenig wissenschaftliche Form der Novelle ersetzen. Die Konzeption der Fallgeschichte als Essay im Sinne von Theodor W. Adorno und Julia Kristeva wird als dritte Form beschrieben. Aus der Erkenntnismethode der Psychoanalyse (als Dialektik von freier Assoziation und gleichschwebender Aufmerksamkeit) leitet sich die Forderung ab, eine der "Natur des Gegenstands" (Freud) der psychoanalytischen Erkenntnis angemessene Form ihrer Rezeption, Aufzeichnung und Reflexion zu finden.
Susann Heenen-Wolff: Viel Dichtung - wieviel Wahrheit? Die Falldarstellung als Mutmaßung
Abstract
Dargestellt werden die wissenschaftstheoretischen Spezifika des heuristischen Vorgehens in der Psychoanalyse, insbesondere durch die Fallgeschichte. Die Autorin untersucht die unterschiedlichen Ansätze in der zeitgenössischen Psychoanalyse, mit der Subjektivität des schreibenden Analytikers/der Analytikerin umzugehen.
Klinik der Psychoanalyse:
Bernd Nissen: Melancholie und Zusammenbruch - Eine Neubetrachtung von Freuds "Trauer und Melancholie"
Abstract
Der Autor versucht zu zeigen, dass Freuds "bildliche Schilderung" der Melancholie das breite Spektrum schwer depressiver Dynamiken intuitiv besser einfängt als präzise Terminologie. Die Melancholie kann Zustände objektaler Vorwurfsdynamiken und schwerer autistoider Konstellationen umfassen, die sich als Abwehr von Zusammenbrüchen verstehen lassen. Winnicotts Modell des breakdown wird kurz skizziert. An einem Fallbeispiel wird diese Dynamik skizziert und dabei gezeigt, dass ein solcher analytischer Prozess sowohl die Entfaltung der Abwehr des Zusammenbruchs umfasst als auch auf Präsenzmomente zusteuert. Solche Prozesse sind nicht bi-personal, sondern dezentral zu begreifen.
Theorie der Psychoanalyse:
Stefan Wolf: Scheitern und Gelingen - Psychoanalyse als kreativer Prozess
Abstract
Im kreativen und im analytischen Prozess vollziehen sich gleichartige Transformationsprozesse. Um die Verwandtschaft beider Vorgänge anschaulich zu machen, werden zunächst drei Ich-Verfassungen beschrieben, die der Künstler im kreativen Prozess der Bildentstehung regelmäßig durchläuft, um anschließend die ihnen entsprechenden Verfassungen des Analytikers im analytischen Prozess zu skizzieren. Das Bewusstsein der Ähnlichkeit beider Verläufe kann dem Analytiker helfen, Phasen des Nicht-Wissens und der Desorientierung als unvermeidliche und die analytische Kreativität fördernde Phänomene des therapeutischen Prozesses zuzulassen.
Geschichte der Psychoanalyse:
Wolfgang Hegener: Freud, ein hellenischer Heide und atheistischer Aufklärer? Oder: Wie jüdisch ist die Psychoanalyse? Ein Beitrag zur Fortführung einer Debatte
Abstract
Ausgehend von einer neueren Veröffentlichung (Will 2014) über Freuds Atheismus wird die kontroverse Diskussion über die jüdischen Wurzeln der Psychoanalyse erneut aufgenommen. Die Auseinandersetzung konzentriert sich dabei auf zwei Themenbereiche: Zum Einen wird die Aussage kritisch reflektiert, dass Freud ein "hellenischer Heide" gewesen sei und seine weltanschauliche Orientierung nur in der gänzlichen Abkehr von seinem jüdischen Erbe habe finden können. Der Autor zeigt, dass der Verweis auf die römisch-griechische Antike das Entréebillet zur Kultur der Assimilation gewesen ist und Freud hinter der Antike die jüdische Erbschaft entdeckt hat. Zum anderen wird die Auffassung kritisiert, dass Freud ganz Aufklärer gewesen sei und er sich in die Tradition des Reformjudentums und des Kulturprotestantismus gestellt habe. Eine genauere Rekonstruktion zeigt, dass das Reformjudentum gerade den Teil des Judentums verworfen hat, der für Freud maßgeblich gewesen ist: das rabbinisch-talmudische Judentum mit seiner Texttradition. Die Orientierung an dieser Denkungsart zeigt sich vornehmlich in der Traumdeutung, in der Freud die Träume wie "heilige Texte" liest.
Wolfgang-Loch-Vorlesung:
Elfriede Löchel: "Triebe und Objekte" neu gelesen - Eine textkritische Auseinandersetzung mit einem Aufsatz Wolfgang Lochs aus dem Jahre 1981.
Abstract
Auf der Grundlage einer textnahen Lektüre von "Triebe und Objekte" (1981) setzt sich der Beitrag mit Wolfgang Lochs Konzeption der "Ursprünge der emotionalen Objektwelt", d. h. den Anfängen der psychischen Struktur- und Repräsentanzenbildung auseinander. Lochs Zuwendung zu den frühesten Entwicklungsprozessen wird als hellsichtig und nach wie vor von hoher Aktualität gewürdigt, während die willkürliche Zusammenfügung heterogener Denkansätze und Begrifflichkeiten aus der historischen Distanz heraus kritisch betrachtet wird. In diesem Sinne wird auch Lochs Anspruch, die philosophische, namentlich kantische Formulierung transzendentallogischer Prinzipien der Realitätskonstitution mit entwicklungstheoretischen psychoanalytischen Denkfiguren in Deckung zu bringen, skeptisch beurteilt. Ausgehend von Lochs origineller Konzeption der Vaterfunktion einerseits und seiner problematischen Verwendung der Begriffe "Ding" und "Objekt" andererseits werden anhand von neuerer Literatur Anknüpfungsstellen und Lösungsvorschläge diskutiert. Besonders hervorgehoben wird, dass Loch mit seiner Lesart der "primären Identifizierung" als Identifizierung mit dem "primären Aggressor", den er zugleich als "Vater der persönlichen Vorzeit" auffasst, zu einer treffenden Formel für die Leistung des Symbolischen gelangt: "durch Untersagung zusprechen ".