Bernd Nissen: Deutung – Ein Aufriss von Freud über Klein und Bion bis zur Gegenwart
Giuseppe Civitarese: Sag es »schräg« – Die Rolle der Deutung in der postbionschen Theorie des analytischen Feldes
Die Art und Weise, wie die Deutung im postbionschen Modell des analytischen Feldes konzipiert wird, unterscheidet sich stark von der traditionellen: Sie ist nicht mehr als Ausdruck des Wissens des Analytikers über den Patienten zu verstehen, sondern als mehrdimensionales Angebot von Bedeutung, um intersubjektiv neuen Ideen und Emotionen zum Leben zu verhelfen. Es geht nicht so sehr darum, vorgefertigte Inhalte zu vermitteln, als darum, Funktionen zu entwickeln. Die gute Deutung bedarf nicht mehr des Etiketts der »Deutung«. Sie ist »gut«, wenn sie die Qualität des Zuhörens des Analytikers – seine Empfänglichkeit für das Unbewusste – widerspiegelt. In ihrer manifesten Form könnte es sich um einen Zwischenruf, eine Geste, ein Schweigen, einen trivialen oder sogar sehr komplexen und anspruchsvollen Kommentar handeln. Unter diesem Gesichtspunkt wird die klassische Art, die Übertragung, die infantile Neurose, das Trauma usw. deutend zusammenzubringen, oft als auffälliges Zeichen für die »Taubheit« eines Analytikers gesehen, der tragischerweise nicht in der Lage ist, dem Unbewussten umfänglich zuzuhören, d. h. auch seinem eigenen Unbewussten und dem, was im Hier und Jetzt geschieht.
Norbert Matejek: Die Analyse träumen – Überlegungen zum Modell der Alpha-Funktion
In seiner Erforschung des Phänomens des Träumens interessiert sich Sigmund Freud in erster Linie für die vorfindbaren Inhalte des Traums und die jeweils wirksamen (Entstellungs-)Mechanismen. Er versteht die ›Traumarbeit‹ eher reaktiv; mit der Funktion, das bewusste Ich vor Impulsen des Es zu schützen und die latenten Wahrheiten vor ihrem Träumer geheimzuhalten. In Wilfred Bions Erweiterung der Freud’schen Traumtheorie wirken hingegen im Akt des Träumens das Lustprinzip und das Realitätsprinzip kooperativ oppositionell miteinander. Aus seiner Sicht erfolgen das Träumen und die ›Alpha-Funktion‹ tags und nachts; dadurch erhalten sie große Bedeutung für das Realitätsprinzip und sämtliche psychische Funktionen des Wachlebens. Psychopathologie versteht Bion als einen Indikator für nicht erfolgreiches und / oder unvollständiges Träumen. Der Analytiker hat die an ihn herangebrachte unbewusste Problematik zuerst für seinen Patienten zu träumen, bevor sie verarbeitet werden kann – zu mentalisierbaren, träumbaren Elementen. Anhand einer klinischen Vignette illustriert der Autor eine Übertragungssituation, in der das Problem der Patientin zunächst nur beobachtet und nicht ›erfolgreich geträumt‹ werden kann. Durch das Versagen der Alpha-Funktion wurde der Patientin früh die Möglichkeit genommen, eine Verbindung zu einem wesentlichen Teil von sich selbst zu erreichen. Dieser blieb nur eingeschränkt für die eigene Entwicklung verfügbar und wurde zu etwas, das sie allenfalls beim Gegenüber beobachten, aber selbst nicht wirklich kennenlernen konnte. Der Autor zeigt, wie sich der Analytiker in einem langwierigen Prozess mit dem zu identifizieren – und das »zu werden« (Bion) – hat, was das Unbewusste der Patientin an ihn heranbringt. Erst dadurch kann der Patientin dazu verholfen werden, Aspekte ihrer emotionalen Realität selbst ›träumerisch‹ kennenzulernen und eine entlastende Alpha-Funktion zu internalisieren. Abschließend werden Bezüge zu den behandlungstechnischen Empfehlungen Bions hergestellt, die den Analytiker zur Frische eines ›träumenden Standpunktes‹ ermutigen.
Delaram Habibi-Kohlen: Ein hoffnungsloser Fall? Zum Paradox vom Überleben-Können nur im Toten
Die Negative Therapeutische Reaktion wird heute zu Recht eher kritisch hinterfragt, da sie häufig dem Patienten als destruktives Agieren angelastet wurde. Aber auch, wenn man Rückschritte, zunichte gemachte Erfolge oder ein ständiges Stagnieren begreift als Phänomene einer Übertragungs-Gegenübertragungsdynamik, bedarf es einer gründlichen Selbstanalyse auf Seiten des Analytikers, um nicht der Verführung durch eine NTR-Konzeptualisierung anheimzufallen, die sich der Einfühlung in vorherrschende Desobjektalisierungsprozesse widersetzt, wie in der vorliegenden Kasuistik beschrieben. Die Durcharbeitung depressiver Verfassungen in der Gegenübertragung ist notwendig, um einerseits aus Sackgassen herauszufinden und andererseits die Notwendigkeit von Rückzugsorten des Patienten dort zu akzeptieren, wo diese vielleicht ein kleineres Übel darstellen, oder das Changieren zwischen beiden Positionen zu ertragen.
Thomas Reitter: Den Schmerz des Undenkbaren vermeiden – negative ›therapeutische‹ Reaktionen und Wiederholungszwang neu betrachtet
In dieser Arbeit werden drei Aspekte untersucht, die für das Zustandekommen von negativen Phänomenen wie der sog. negativen therapeutischen Reaktion und dem Wiederholungszwang von großer Relevanz sind, aber in der psychoanalytischen Literatur bisher nur beiläufig behandelt wurden. Dabei kommt dem ersten Aspekt, der Vermeidung von psychischem Schmerz, die größte Bedeutung zu. Die Tatsache, dass die Differenz in der Wahrnehmung zur Reaktivierung von verdrängten oder verworfenen Erinnerungen führt, erklärt, warum bessere Erfahrungen vermieden und schlechte zwanghaft wiederholt werden. Der von D. Meltzer beschriebene ästhetische Konflikt, die Opferung von eigenen Potenzialitäten als Sühne bzw. Wiedergutmachung von transgenerationell weitergegebener Schuld, aber auch die Angst vor dem auslöschenden Vergessen des Traumas sind weitere Aspekte, die in die Dynamik des im klinischen, aber auch gesellschaftlichen Kontext zu beobachtenden Wiederholungszwangs eingehen. Abschließend werden behandlungstechnische Fragen diskutiert, die sich aus den theoretischen Erwägungen ergeben, wobei der Zeugenschaft des Analytikers eine herausragende Rolle zukommt.
Herbert Will: Drei Dimensionen, die eine psychoanalytische Deutung ausmachen
In der gegenwärtigen Psychoanalyse ist das Konzept der Deutung immer unübersichtlicher geworden. Angesichts dessen schlägt der Autor vor, die Eigenart psychoanalytischer Deutungen durch drei Dimensionen zu erfassen, die er in Auseinandersetzung mit den Autoren Paula Heimann und Wolfgang Loch gewinnt: Die erste Dimension, der intersubjektive Quellgrund des Deutungsprozesses, betrifft die Geburt der Deutung aus dem analytischen Feld und der Übertragungsbeziehung. Die zweite Dimension, die Weil-Überlegung, präsentiert den Kerngedanken des psychoanalytischen Deutens. Als dritte kommt eine evokative Dimension hinzu. Sie legt den Schwerpunkt auf die therapeutische Wirkung der Deutung und die Anregung der Patienten, sich weiterzuentwickeln. Der Autor erläutert diese Dimensionen und schließt eine Fallvignette an, um sie in der Klinik zu verankern.
Michel de M’Uzan: Die Objektbeziehung. Zwischen wem, zwischen was? Für wen, für was?
Die Objektbeziehung erfährt mit den von M. de M’Uzan geschaffenen Begriffen – wie dem »Identitätsspektrum« oder der »psychologischen Chimäre« – eine tiefgreifende Veränderung, denn für den Autor ist das Subjekt stets ein übergangshaftes. Noch bevor überhaupt von Drinnen und Draußen die Rede ist, dürfte das Subjekt für sich einen Doppelgänger erfunden haben. So dass es sich, bevor es sich vom Nicht-Ich unterscheidet, von sich selbst differenziert haben muss. Der Autor insistiert auf einer Verhandlung zwischen den durch das sexuelle Triebhafte eingesickerten operativen Aufforderungen und den einer nicht-libidinösen und rein identitären Ordnung des Bedürfnisses – die dem Sexuellen, das wiederum den Narzissmus einschließt, fremd ist. Ein solcher identitärer Skandal erfordert folglich in den Interventionen und Deutungen des Psychoanalytikers in der Sitzung eine – vom Autor hier vorgelegte – neue Grammatik. Es geht also für diesen um eine Verschärfung der identitären Erschütterung, die den Zugang zu Neuem erlaubt. Das wird an mehreren Beispielen dargelegt.
Der Prozess des Malens, der malende Körper und das Bild, das Bekannte und das Dumme. Interview mit Daniel Richter, geführt von Uta Zeitzschel
Karl-Abraham-Vorlesung:
Werner Bohleber: Über Brüche in der Theoriebildung. Ein Beitrag zur Generationengeschichte der Psychoanalyse in Deutschland 1945–1995.
Die Arbeit befasst sich mit der Theorieentwicklung in der deutschen Psychoanalyse nach 1945. Die Öffnung zur internationalen Psychoanalyse als Rückkehr zur Psychoanalyse Sigmund Freuds und das Einströmen der amerikanischen Ich-Psychologie wälzte das damalige psychoanalytische Denken um, verbunden mit einer Abkehr von eigenständigen Formen tiefenpsychologischer Psychotherapie und Psychoanalyse und einem Versiegen eines fruchtbaren Dialogs mit philosophischem und anthropologischem Denken. Damit verbundene zukunftsträchtige Theorieansätze gingen verloren. Diese Brüche, Übergänge und theoretische Neuentwicklungen sowie ihre generationelle Verankerung werden im Einzelnen nachgezeichnet. Ein generationeller Blick auf diese Entwicklung kann dann auch einen weiteren Bruch in der Theoriebildung aufhellen, der sich in den 1980er und -90er Jahren im Zuge der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit vollzog und den Charakter eines Generationenkonflikts hatte.
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Verfasser*innenangabe:
Herausgeber*innen Bernd Nissen und Uta Zeitzschel ; mit Beiträgen von Werner Bohleber, Giuseppe Civitarese, Delaram Habibi-Kohlen, Michel de M'Uzan, Norbert Matejek, Bernd Nissen, Thomas Reitter, Herbert Will und Uta Zeitzschel
Jahr:
2020
Aufsätze:
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Bandangabe:
80.
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Systematik:
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PI.HPP
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ISBN:
978-3-7728-2080-9
2. ISBN:
3-7728-2080-8
Beschreibung:
244 Seiten : 1 Illustration
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Sprache:
Deutsch
Fußnote:
Zusammenfassungen in deutscher und englischer Sprache. - Ethält: Literaturangaben
Mediengruppe:
Buch