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Zukunft 2022; 05

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Jahr: 2022
Zukunft 2022
Zählung: 05
Mediengruppe: Zeitschrift
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Inhalt

EDITORIAL: Schauplatz Utopie / ALESSANDRO BARBERI, THOMAS BALLHAUSEN und BIANCA BURGER
Mit Schauplatz Utopie adressieren wir einen Schlüsselbegriff unseres Denkens und Seins, dessen für uns so geläufige Verwendung überraschenderweise erst im 18. Jahrhundert – und damit verhältnismäßig spät – seine Durchsetzung und Verbreitung erlebt. Die tiefenhistorisch damit verbundenen Ideen und Ansätze rund um entfernte ideale Staaten und künftige gesellschaftliche Wirklichkeiten sind freilich weit älter; ab dem 16. Jahrhundert erfährt die Utopie schließlich eine Zuspitzung, die der Entwicklung als philosophisches Konzept, als literarisch-künstlerische Gattung oder auch als politische Kampfvokabel prägend vorausgeht. Die Verhandlung und Indienstnahme der Utopie, die sich gleichermaßen als Losung, wie auch als Lösung anzubieten scheint, wird dabei in ihrer (durchaus auch instrumentalisierten) Nutzung als Richtungsvorgabe oder als Prognose abseits vom technisch-naturwissenschaftlich Möglichen von zumindest zwei Paralleldiskursen begleitet: So ist einerseits eine permanente Auseinandersetzung zwischen angesetzter Utopie und den gesellschaftlichen oder gar individuellen Idealen feststellbar; andererseits die ständige Begleitung der Ausgestaltung utopischer Entwürfe und Vorstellungen durch eine mitunter recht heftige Kritik, die nach Umsetzbarkeit, Machbarkeit und Konsequenzen der jeweiligen Utopien fragt. Es ist die Attestierung des Modellhaften, die den Utopien, die in letzter Konsequenz ja immer auch auf die Veränderung der gesamten Gesellschaft abzielen, entgegengehalten wird. Aus der Position eines zu erhaltenden kritischen Diskurses wollen wir hier, auch im Sinne der zusammengestellten Texte, nicht nur auf die Utopie als mögliche Richtungsvorgabe hinweisen, sondern auch auf das platonische Ideal, dass sich eben nur durch konstruktive Kritik am Bestehenden das erstrebenswerte Neue gewinnen lässt.
 
Das vorliegende Heft wird auch deshalb mit einem Aufsatz von Ingrid Nowotny eröffnet, der seinen Ausgangspunkt in Immanuel Kants Zum ewigen Frieden hat. In dieser ökonomisch gehaltenen Schrift aus 1795 (leicht erweitert: 1796) entwickelt der große Aufklärer durchaus realistische (und: in ihrer Anlage umsetzbare) Prinzipien und Richtlinien, die stiftende Grundlage eines dauerhaften Friedens zwischen den Nationen auf der Basis seiner moralphilosophischen Fundamente sein können. Wenig zufällig wählt Kant die Form des Vertrags als Textgestalt, um diesem Alterswerk auch auf übergeordneter Ebene bereits ein Angebot zur Verbindlichkeit einzuschreiben. Nowotnys hellsichtige Erklärung und Auslegung von Zum ewigen Frieden macht einen Text und seine Kontexte erfahrbar, die nicht zuletzt aufgrund aktueller politischer Entwicklungen von verstärktem Interesse sein müssen. Dass Theater einen Schauplatz für Utopie bietet, davon zeugt die Bildstrecke dieser Ausgabe, die Theaterarbeiten der erfolgreichen österreichischen Regisseurin Christina Gegenbauer zeigt. Warum das Theater überleben wird, es dabei helfen kann, Ängste abzubauen und man nicht nicht politisch sein kann, darüber spricht die Regisseurin im Interview mit ZUKUNFT-Redakteurin Hemma Prainsack. Es ist eine intensive Auseinandersetzung über ihre sorgfältige Arbeit mit Schauspieler*innen, der notwendigen Sattelfestigkeit und ihrer Entscheidung, sich vorrangig zeitgenössischen, modernen Textmaterialien zu widmen. Mit ihren Arbeiten macht Christina Gegenbauer Theater für alle, sie setzt kein Vorwissen für Stücke voraus. Dafür baut sie auf die Fantasie der Zuschauer*innen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich ihre eigene Meinung, ihr eigenes Empfinden zu bilden – nicht zuletzt, weil das kollektive Erleben im Theater Gemeinschaft stiftet.
 
Die Fragen nach Möglichkeiten, Limits und den utopischen Potenzialen von Gemeinschaft stehen auch im Zentrum der Ausführungen von Thomas Ballhausen, der sich ebenfalls einen Klassiker des deutschsprachigen Denkens zum Thema gewählt hat: Masse und Macht (1960) von Elias Canetti. Das theoretisch-philosophische Hauptwerk des Nobelpreisträgers ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit Machtdynamiken innerhalb der Gesellschaft und ihrer Konsequenzen. Canettis Monografie ist klar von seinen Eigenwilligkeiten, Interessenslagen und Strategien gekennzeichnet; ein Umstand, der eher zur Gültigkeit und Zeitlosigkeit dieses vielbeforschten Buchs beigetragen hat. Anders als viele thematisch ähnlich gelagerte, aber traditioneller konzipierte Arbeiten, hat sich Canettis Masse und Macht als nahezu zeitloses Werk erwiesen, dessen Thesen weiterhin zur Beschäftigung einladen.
 
Wie Auseinandersetzung mit dem Gegebenen den Blick auf vermeintlich wie auch tatsächlich Besseres bzw. Würdigeres schärfen mag, spielt für den Aufsatz von Christa Agnes Tuczay eine nicht unwesentliche Rolle. Die renommierte Literaturwissenschaftlerin und Erzählforscherin widmet sich in ihren kurzweiligen Ausführungen der bildstarken Literaturverfilmung The Green Knight (2021) des US-amerikanischen Regisseurs David Lowery. Dieser vieldiskutierte Film beruht auf mittelalterlichen Quellen und thematisiert anhand der Abenteuer eines jungen Ritters, der sich noch zu bewähren und auch eine Form von Geschichte für sich geradezu zu entdecken hat, die Verknüpfung von Utopie und gesellschaftlichen Idealen – die selbst eben auch wiederum historischen Wandlungsprozessen unterworfen sind. Der Autorin gelingt es den vielschichtigen Inhalt des Films und seiner Vorlagen nachvollziehbar und für den aktuellen Schwerpunkt der ZUKUNFT anschlussfähig zu machen.
 
Wie stark Utopien und utopische Entwürfe Ausdruck geschichtlicher Entwicklungen sind, macht auch der Beitrag von Nikolaus Schobesberger deutlich. Anhand spannender Archivmaterialien und einer Zusammenschau wesentlicher Forschungsliteratur rekonstruiert der Historiker in seinem Beitrag Die Utopie der funktionalen Stadt Strategien und Tendenzen der Wiener Stadtplanung nach dem Zweiten Weltkrieg nach, die stark auf Fragen von Verkehr und Siedlungsbau ausgerichtet waren.
 
Zwei literarische Beiträge runden die vorliegende Schwerpunktausgabe stimmig ab: Mit Ich lebe nur noch im Damals setzt Lorena Pircher anhand zweier aufeinander bezogener Prosapassagen ihre Auseinandersetzung mit den Themen Selbsterfahrung, Fremde, Verlust und eben die utopische Dimension des Romantischen fort. Im Beitrag des Schriftstellers und Herausgebers Cornelius van Alsum lernen wir dessen Kunstfigur Pisperwitz als einen durchaus eigenwilligen Zeitgenossen kennen. Mit viel Schärfe und Humor entlarvt Pisperwitz in diesen poetischen Miniaturen wie beiläufig die vielfältigen Zumutungen, die wir tagtäglich zu ertragen haben. Abseits aller Resignation können wir mit der Figur Pisperwitz, die eine Vielzahl literarischer Vorbilder und Verwandter hat, einen Seismografen gesellschaftlicher Wirklichkeit kennenlernen, dem das Utopische durchaus nicht fremd ist.

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Jahr: 2022
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