EDITORIAL 10/2022 – 100 JAHRE BILDUNG FÜR WIEN – VON ALESSANDRO BARBERI UND BARBARA AURACHER-JÄGER / 31. Oktober 2022 Alessandro Barberi Alessandro Barberi, Barbara Auracher-Jäger
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EDITORIAL: In der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung ist seit dem 19. Jahrhundert durch die zahlreichen Gründungen von Arbeiter*innenbildungsvereinen immer wieder die entscheidende Rolle der Bildungspolitik gesehen und betont worden. Denn gerade durch Bildung gelang es, die entscheidenden Forderungen der Arbeiterklasse zu artikulieren und in der Auseinandersetzung mit reaktionären aristokratischen und bürgerlichen Kräften so durchzusetzen, dass es zu entscheidenden Fortschritten hinsichtlich der Interessen der breiten Masse(n) kam. Erst durch die progressive Bildungspolitik der Sozialdemokratie bekamen – wie etwa in der Ära Kreisky – Arbeiterkinder die Möglichkeit, Bildungsabschlüsse zu erreichen, nachdem sie lange Zeit auf das Härteste von (höherer) Bildung ausgeschlossen waren.
Dabei können wir heute nachdrücklich daran erinnern, dass in der österreichischen Geschichte vor allem das Rote Wien vor etwa 100 Jahren mit seinen Bildungsmodellen eine entscheidende Rolle spielte, wenn wir etwa bedenken, dass die auf dem Ideal der Gleichheit aufbauenden Bildungsvorstellungen eines Otto Glöckel bis heute nichts an Aktualität eingebüßt haben. Denn es war Bildung, die den „Neuen Menschen“ bilden sollte. Auch angesichts der devastierenden bildungspolitischen Auswirkungen eines deregulierten Kapitalismus sind aus heutiger Perspektive die Theorien und Modelle des Austromarxismus, der für das Rote Wien – denken wir nur an den Karl-Marx-Hof – grundlegend war, von ungeahnter Aktualität. Deshalb hat die Redaktion der ZUKUNFT sich entschlossen, dem Thema 100 Jahre Bildung für Wien eine eigene Ausgabe zu widmen, in deren Rahmen wir nicht nur an Otto Glöckel und Otto Neurath erinnern wollen, sondern auch führende Spitzenpolitiker*innen der SPÖ für Interviews gewinnen konnten, um die aktuelle Lage der Bildungspolitik vor Augen zu führen.
Dies beginnt damit, dass der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig in einem Interview daran erinnert, dass wir am 23. Februar 2022 ein stolzes Jubiläum begehen konnten, da genau vor 100 Jahren per Bundesgesetz der Stadtschulrat für Wien, die heutige Bildungsdirektion, eingerichtet wurde und von Beginn an mit dem Namen Otto Glöckel verbunden war. Dabei betont Ludwig, dass ihm Glöckels Forderung, Kinder zu Kritikfähigkeit und selbständigem Handeln zu erziehen, nach wie vor ein großes Anliegen ist, das auch in der Lehrer*innenaus- und -fortbildung große Bedeutsamkeit besitzt, da Bildung nicht nur den Wohlstand, sondern auch Demokratie und Frieden garantiert. Deshalb setzt progressive Bildungspolitik nach wie vor dort an, wo das (symbolische) Bildungskapital und die Bildungstitel in stark ungleicher Art und Weise „vererbt“ werden. Ludwig sieht dabei hinsichtlich der Ganztagsschule (langsame) Fortschritte, hebt u. a. hervor, dass das Angebot an Gratis-Ganztagsschulen laufend erweitert wird und hält fest, dass gute Bildung Chancen auf sozialen Aufstieg und Selbstverwirklichung eröffnet.
Günther Sandner fasst in der Folge mit seinem zeithistorischen Beitrag die Biografie und das (bildungs-)politische Wirken Otto Neuraths zusammen, der neben Rudolf Hilferding oder Max Adler zu den wichtigsten Intellektuellen des Roten Wien zählte, indes durch sein Exil jahrzehntelang in Österreich vergessen war. Damit wird eine maßgebliche intellektuelle Linie nachgezeichnet, die zutiefst mit dem Roten Wien verbunden ist. Denn auch 100 Jahre später sind die Leistungen von Neurath und die Positionen des Austromarxismus – so etwa die Forderung nach einer „Vollsozialisierung“ von Wirtschaft und Gesellschaft – angesichts des neofeudalen digitalen Kapitalismus von beeindruckender Aktualität. Sandner diskutiert dabei Neuraths nach wie vor faszinierende Erfindung statistischer Visualisierungen und Piktogramme („ISOTYPE“), verweist in kommunitärem Sinne auf die Modelle der Gemeinwirtschaft, ruft die Siedlerbewegung in Erinnerung und verweist auf Neuraths Gründung des Museums für Siedlungs- und Städtebau, aus dem schließlich das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum (GWM) in Wien Margareten hervorgehen sollte.
Auch freut es die Redaktion, eine Doppelconférence von zwei verdienten Bildungsexperten präsentieren zu können, die mit der Geschichte und Gegenwart der Sozialdemokratie zutiefst verbunden ist. Denn im Gespräch mit Kurt Scholz diskutiert Heinrich Himmer, Bildungsdirektor für Wien,grundlegende Probleme der österreichischen Schule und zeigt – erneut im Rückgriff auf die Konzepte von Otto Glöckel – warum sozialdemokratische Positionen im Sinne von Gemeinwohl und Gerechtigkeit gerade angesichts eines sozialen und demokratischen Bildungssystems nach wie vor gesellschaftspolitisch notwendig sind. Auch in diesem Zusammenhang steht der bedenkliche Zusammenhang von gesellschaftlichen Klassen und Schulklassen deutlich vor Augen, wenn Himmer nachdrücklich betont, dass die Klassenfrage immer auch eine Frage nach gleichen Chancen bedeutet. Der Klassenkampf beginnt mithin in unseren Schulklassen. So kann im internationalen Vergleich insgesamt festgestellt werden, dass das österreichische Bildungssystem nach wie vor hochgradig selektiv ist und unglaubliche Systembrüche zu verzeichnen sind.
Wenn wir 100 Jahre Bildung für Wien zum Diskussionsgegenstand machen, dann sind auch aktuelle schulpolitische Projekte von geraumer Bedeutung, weshalb Andrea Trattnig, die Leiterin der Abteilung Stadt Wien-Schulen, Bildungseinrichtungen im Roten Wien der Gegenwart vorstellt. Denn da Wien geografisch und demografisch wächst und die Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen an oberster Stelle stehen muss, investiert die Stadt Wien massiv in den Neu-, Aus- und Zubau, aber auch in die Sanierung von Bildungseinrichtungen, die einer beeindruckenden Schularchitektur entsprechen, wie der Beitrag deutlich vor Augen führt. Zeitgemäße Bildung, Kultur und Sport bilden also in Erinnerung an das vergangeneRote Wien und damit an 100 Jahre Bildung für Wien die Basis für einen erfolgreichen Bildungsweg der jungen Wiener*innen, weshalb Trattnig insgesamt Einblick in aktuelle bildungspolitische Projekte in Wien gibt, wodurch ein abgerundetes Bild des gegenwärtigen Roten Wien entsteht.
Nachdem diese Ausgabe mit dem Interview beginnt, dass der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig der ZUKUNFT gegeben hat, rundet das Gespräch mit Gerhard Schmid, dem Bundesbildungsvorsitzenden der SPÖ, unsere Ausgabe ab. Denn auch Schmid aktualisiert das Rote Wien und die pädagogischen Modelle Otto Glöckels, wenn er betont, dass uns – in allen Wortbedeutungen – jedes Kind gleich viel Wert sein muss. In Erinnerung an das Rote Wien und den Austromarxismus hebt Schmid hervor, dass im Hintergrund der Handlungen von Rudolf Hilferding, Max Adler und Otto Bauer eine ideologische Programmatik stand, deren Ziel es schon vor 100 Jahren war, Bildungsbarrieren abzubauen und dem Grundsatz der klassenlosen Gesellschaft zu entsprechen. Ein Ziel, das für Sozialdemokrat*innen nach wie vor bindend ist. Deshalb galt damals, was noch heute gilt: Nur eine gleiche Bildung ist auch die beste Bildung für unsere Kinder und Jugendlichen. Dabei steht die (erneute) Demokratisierung des Bildungssystems im Sinne eines Digitalen Humanismus genauso vor Augen wie die Notwendigkeit, auf die Herausforderungen der Digitalisierung im Sinne der Bildungsgleichheit zu reagieren.
Last but not least geht es auch im Interview mit Irma Sitter um Bildung im weiteren Sinne. Denn ZUKUNFT-Redakteurin Hemma Prainsack hat im Blick auf unsere Bildstrecke ein Interview mit der bildenden Künstlerin geführt, der wir in diesem Kontext auch herzlich dafür danken wollen, dass sie uns ihre Werke freimütig zur Verfügung gestellt hat. In einem intensiven Gespräch verdeutlicht Sitter, wie wichtig der Austausch zwischen Kultur und Gesellschaft – etwa im Vergleich von Südafrika und Österreich – für die Menschen eines gegebenen Landes ist. Darüber hinaus gewährt Sitter Einblick in ihre Inspirationsquellen und offenbart, welche wechselseitige und interdisziplinäre Bereicherung zwischen Kunst und Wissenschaft entstehen kann, wenn beide Seiten aufeinander zugehen. Dass Malen und die Konzentration im Atelier ein einzigartiges Glücksgefühl in ihr erzeugt, spiegelt sich in den anregenden Farbtönen und Formkompositionen wider, die unserer Ausgabe eine klare und beeindruckende visuelle Linie geben, die für uns alle sichtbar das Bild der Bildung verschönert.
Insgesamt hoffen die Herausgeber*innen wie die Redaktion, dass 100 Jahre Bildung für Wien uns allen Anlass genug sind, eine kantige Bildungspolitik ins Auge zu fassen, um die Sozialdemokratie auf dem Weg in die ZUKUNFT mit dem Erbbestand ihrer progressiven Bildungspolitik zu verbinden und ihr ein deutliches und klares Ziel zu geben. Im Namen unserer Bildung senden wir