EDITORIAL ZUKUNFT 01/2023 – KONTROLLE UND REGULATION – VON ALESSANDRO BARBERI UND THOMAS BALLHAUSEN / 4. Jänner 2023 Alessandro Barberi Alessandro Barberi, Allgemein, Thomas Ballhausen
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Dass angesichts von Künstlicher Intelligenz, Maschinisierung und Kybernetik gerade aus Sicht der Sozialdemokratie eine Kritik des Digitalen Kapitalismus und seiner Produktionsbedingungen im Sinne eines Digitalen Sozialismus nötig ist, stellt den Ausgangspunkt der ersten Ausgabe der ZUKUNFT im Jahr 2023 dar. Denn die Auseinandersetzung mit Technologie zählt seit dem 19. Jahrhundert zu den theoretischen und praktischen Grundzügen der Arbeiter*innenbewegung, die etwa mit den Maschinenstürmer*innen zur Einsicht gelangte, dass die hochgradig ungleichen Klassenspaltungen unserer Gesellschaften nicht durch, sondern mit Maschinen reproduziert werden. Daher ist es nach wie vor nötig an den Schrauben der Eigentumsverhältnisse zu drehen. Dabei ist der Einsatz von Maschinen zutiefst mit Fragen der Kontrolle verbunden, wenn wir etwa an Algorithmik, Big Data oder Überwachungstechnologien denken, mit denen – wir erinnern uns genau zehn Jahre später an die Causa Edward Snowden – tief in das Privatleben von Bürger*innen eingegriffen werden kann. Auch angesichts der Frage, ob denn nun die angeblich so „freien“ Märkte einer Regulation und staatlichen Steuerung bedürfen, um eine gegebene Gesellschaft im Sinne des Sozialstaats stabil zu halten, verbindet unsere Ausgabe zu Kontrolle und Regulation zutiefst mit den Agenden einer sozialen, demokratischen und damit progressiven Politik.
Ganz in diesem Sinne rekapituliert Arantzazu Saratxaga Arregi für unsere Leser*innen die theoretischen Grundlagen der Kybernetik, die als Steuerungswissenschaft etwa seit 1945 und angesichts des Kalten Krieges im Osten (planwirtschaftliche Regulation) wie im Westen (marktwirtschaftliche Deregulation) zu einer mehr als einflussreichen Wissensform und Ideologie wurde. Dabei hat die Kybernetik mit Heinz von Foerster einen herausragenden österreichischen Vertreter, an den hier mehrfach erinnert wird. Der Beitrag behandelt angesichts eines aktuellen Films über den Chaos Computer Club (CCC) die grundlegenden Voraussetzungen der „kybernetischen Hypothese“ und diskutiert anhand von Begriffen wie Kontrolle, Regelung und Steuerung die durchaus ethische Frage, ob und inwiefern im Rahmen kybernetischer Modellierung menschliche Kommunikationen oder freie Entscheidungen überhaupt möglich sind. Was wäre also eine KybernEthik im Sinne Heinz von Foersters?
Dass die Kybernetik durchaus unethisch und inhuman zur Steuerung und Disziplinierung der Menschen eingesetzt wurde und wird, betont dann Alessandro Barberi, der sich u. a. im Rekurs auf Jürgen Habermas angesichts der Brutalität kapitalistischer Ausbeutung Sorgen um die Freiheit der menschlichen Lebenswelt(en) macht. Dabei konstatiert er eine permanente Kolonialisierung, Individualisierung und Verknappung eben dieser Lebenswelt(en) und erläutert in Erinnerung an die Finanzkrise von 2007–2008 die Notwendigkeit einer sozialstaatlichen Regulation der Märkte im Namen von Freiheit und Gleichheit. Sein Artikel, der in seinen Grundrissen bereits vor zehn Jahren vorlag und für diese Ausgabe stark überarbeitet und aktualisiert wurde, analysiert deshalb möglichst präzise die Funktionsweise des Digitalen Kapitalismus aus marxistischer Perspektive und greift dabei in der durchgängigen Verteidigung des Mai 68 auch auf klassische theoretische Bestände der Arbeiter*innenbewegung zurück. Let’s find communality in our diversity!
Auch der Beitrag von Ingrid Nowotny untersucht angesichts der gegenwärtigen Klimaproteste die Macht der kapitalistischen Wirtschaftslobbies und den geringen Einfluss der Gewerkschaften auf internationaler Ebene, um all diese Problembereiche in einen demokratietheoretischen Kontext zu stellen. In welchem Zusammenhang stehen politischer Klima-Aktivismus, ziviler Ungehorsam und die soziale Demokratie? Dabei konstatiert Nowotny angesichts von sinnlosen politischen Aktionen vor allem dann Gefahren für die liberale Demokratie, wenn ihre eingespielten politischen Regeln nutzlos gebrochen und ihre Werte geringgeschätzt werden. So sieht die Autorin gerade im Begriff des Liberalismus ein Problem, das sich zwischen gesellschafts- bzw. demokratiepolitischem und Wirtschaftsliberalismus auftut. Denn die Lösung der Sozialdemokratie liegt nach Nowotny nicht in der Abschaffung der freien Wirtschaft, sondern in der Kontrolle und Regulation der freien Wirtschaftstätigkeit mit den Mitteln der Demokratie, die auf den sozialen Ausgleich ausgerichtet ist und ein humanitäres und solidarisches Menschenbild als Basis hat.
Auch freut es die Redaktion einen wissenschaftlich breit abgestützten Artikel von Andreas Spengler wieder abdrucken zu dürfen, der im Blick auf Steuerungstechnologien und angesichts von (neo-)liberaler Freiheit nach den Möglichkeiten der Individuation und Subjektivierung im globalen Feld des Digitalen Kapitalismus fragt. Der Medienpädagoge untersucht deshalb norm(alis)ierende Regierungstechnologien und interessiert sich für die Rolle von Normen, Normierungen und Normalisierungen im Rahmen unserer neofeudalen Gegenwart. Dabei geht es darum, sich den illegitimen und unterwerfenden Kontrollmechanismen und Regulationen der vorgegebenen digitalen und kapitalistischen Ordnung zu entziehen, um – in Erinnerung an Michel Foucaults linke und progressive Widerstandslehre – nicht dermaßen regierbar zu sein. Welches (medien-)kritische und widerständige Potenzial bleibt uns also angesichts von marktorientierter und -radikaler Individuation und Selbstoptimierung? Dabei streift auch dieser Beitrag aktuelle Diskussionen zu Medientheorie, Kybernetik oder Posthumanismus und wirft ebenfalls (medien)ethische Fragen nach der demokratiepolitischen Möglichkeit von Verantwortung und Gerechtigkeit auf.
Dass Thomas Ballhausen, der stellvertretende Chefredakteur der ZUKUNFT, schon mehrfach als Schriftsteller an die Öffentlichkeit getreten ist, dürfte unseren Leser*innen keine Neuigkeit sein. Und so präsentieren wir in dieser Ausgabe erneut eine seiner Erzählungen, die ausgehend von den tatsächlichen Namen menschengemachter Raumsonden eine literarische Reflexion über Kontrolle, Gehorsam und Fehlbarkeit lesbar machen. Im Blick auf unseren Schwerpunkt zu Kontrolle und Regulation stellt er dabei nicht die menschlichen Protagonist*innen ins Zentrum seiner mehrteiligen Erzählung über Exploration und Auftrag, sondern eben die titelgebenden Maschinen. Dabei wird auch in diesem Text das Ausbilden von Subjektivität angesichts von Anthropomorphismus und Phantastik verhandelt und als mal bedrohliche, dann wieder unterhaltsame Dysfunktion erfahrbar. Was die Sonden berichten. Eine Variante ist nicht nur eine Parabel über soziale Asymmetrien, es ist eine melancholische Auseinandersetzung mit einem Gefüge, das im Blick auf Maschinen über das rein Humane hinausgeht.
Auch die Prosaskizze Erinnerungen kleben an meinen Wimpern wie das Sein von Lorena Pircher soll unsere literarischen Ambitionen verdeutlichen, da es der Autorin sehr eindringlich gelingt, Momente poetologischer Reflexion mit erzählerischen Elementen zu einem eindringlichen Text über Sehnsucht, Erinnerung und Haltung zu verbinden. Mit poetischer Leichtigkeit gelingt ihr einmal mehr die Thematisierung des Schweren und des noch Schwereren, das in der menschlichen Existenz eingeschrieben ist. So zeigt sie nachdrücklich, was Literatur gerade im Blick auf das menschliche Leiden zu leisten imstande ist.
Last but not least freut es uns sehr, dass Fabian Erik Patzak uns nunmehr zum wiederholten Mal die Möglichkeit gegeben hat, vom Cover weg unsere Bildstrecke mit seinen wunderbaren Arbeiten zu bespielen. Erneut geht es in seinen Bildern, die angesichts der Corona- und Ukraine-Krise entstanden sind, um das Ausloten geometrischer Formen und das Grundthema der ästhetischen Verarbeitung von Bewegung. Denn die Flugzeuge und Schiffe Patzaks laden uns alle auf eine visuelle Reise ein, die im Grunde ihren Abschluss nicht finden kann … Am Ende unserer Ausgabe präsentieren wir in diesem Sinne ein Interview, dass Hemma Marlene Prainsack mit Patzak geführt hat. Er geht dabei auf mehreren Ebenen Krisenphänomenen nach, erläutert die Bildstrecke und gibt einen bemerkenswerten Einblick in seine bildnerische Praxis.
Insgesamt hoffen wir auch mit dieser Ausgabe, unsere Leser*innen angesichts des Problembereichs von Kontrolle und Regulation mit anregenden Argumenten und interessanten Diskursen zu konfrontieren, die es uns erleichtern sollen, die Gegenwart des Digitalen Kapitalismus im Blick auf Künstliche Intelligenz, Maschinisierung und Kybernetik zu verstehen. Es ist uns – in allen Wortbedeutungen – ein kritisches Anliegen, die Funktionsweisen unserer Gesellschaft aufzuklären, um die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern progressive Veränderungen möglich werden zu lassen.