EDITORIAL ZUKUNFT 03/2023 – SCHWACHE DEMOKRATIE?- VON ALESSANDRO BARBERI: Dass auf globaler und lokaler Ebene demokratische Grundstandards hart in Frage gestellt werden, ist der Ausgangspunkt dieser Ausgabe der ZUKUNFT, die der Frage Schwache Demokratie? nachgeht. Dabei ist die Redaktion gemeinsam mit den hier präsentierten Autor*innen zutiefst beunruhigt, da gegenwärtig auf unserem Globus quantitativ betrachtet mehr Autokratien und Diktaturen existieren als liberale Demokratien. Parallel dazu sind auch in den sog. westlichen Staaten in den letzten Jahren und Jahrzehnten demokratische Standards zunehmend hinterfragt worden. Denken wir hier nur an die Wahlerfolge von rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien. Von sozialen Demokratien lässt sich im Grunde – und gerade im Umfeld der Sozialdemokratie – immer weniger sprechen, was deutlich darauf hinweist, dass auch unser eigenes Demokratieverständnis auf dem Spiel steht. Denn nach den Idealen der Französischen Revolution wäre Demokratie erst dann erreicht, wenn die individuelle und formale Freiheit mit der kollektiven und sozialen Gleichheit in einer menschlichen und d. h. ausgeglichenen und harmonischen Gesellschaft zusammenfiele. Davon kann indes angesichts der globalen Finanzmarktdiktatur und den mit ihr zutiefst verbundenen Klassenantagonismen heute auf keiner (politischen) Ebene die Rede sein.
Deshalb ist es nötig, den Begriff und die Wirklichkeit der Demokratie aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, um ihre Stärkung zu bewirken. So konnten wir für diese Ausgabe sowohl Beiträge zu den juristischen als auch zu den realpolitischen Problemlagen der Demokratie zusammenstellen, die insgesamt darauf abzielen, uns ein klares Bild über den internationalen und lokalen Zustand der Demokratie(n) zu geben. Dies beginnt mit einem Blick auf unsere Bundesverfassung sowie einer Bestandsaufnahme der globalen Gefährdung von Demokratie und führt zu einer eingehenden Analyse der Doppeldeutigkeit, die mit dem Begriff der liberalen Demokratie – zwischen liberalen Freiheiten und Wirtschaftsliberalismus – verbunden ist. Auch die Grenzen einer progressiven sozialen und demokratischen Politik werden dabei – etwa angesichts der derzeitigen Unmöglichkeit eine Erbschaftssteuer durchzusetzen – vor Augen geführt.
s ist also notwendig, sich im Sinne der liberalen Demokratie an die normativen und juristischen Grundlagen unserer Republik zu erinnern, um in einem ersten Schritt Demokratie auf dieser intellektuellen Ebene abzusichern. Deshalb stellt Barbara Serloth in ihrem Beitrag zu Repräsentation und Bürgerbeteiligung einige demokratietheoretische Überlegungen zu unserer Bundesverfassung und damit freilich auch zu Hans Kelsen an, um sie an den Beginn unserer Schwerpunktausgabe zu stellen. Ausgehend von grundlegenden Einsichten Kelsens unternimmt sie den Versuch, zwischen Repräsentation und Partizipation das prinzipielle Paradoxon demokratischer Politik zu diskutieren, das nicht zuletzt darin besteht, dass das „Volk“ keine „reale Substanz“, sondern vielmehr eine „normativ notwendige Fiktion“ darstellt. Angesichts von politischer Vertretung (in allen Wortbedeutungen der Repräsentation) und Bürger*innennähe geht es dabei nicht zuletzt um den Begriff der „Volkssouveränität“ und den Gedanken der „Partizipationsfiktion“. Dabei führt die Autorin angesichts unserer stark polarisierten Gesellschaften auch die Grenzen einer rein juristischen Auffassung von Demokratie vor Augen, wenn sie die Frage der individuellen „Selbstregierung“ thematisiert und – gleichsam gegenüber von Gesetzen – auch auf das soziale Phänomen der gesellschaftlichen Masse stößt.
Zutiefst beunruhigt zeigt sich in der Folge auch Thomas Nowotny, der eine maßgebliche Frage in den Raum stellt: Wird die künftige weltpolitische Ordnung eine demokratische sein? Dabei setzt er seine Gedanken in einen direkten Zusammenhang mit Herfried Münklers Die Zukunft der Demokratie (2022), um auf breiter Ebene die demokratiepolitische Lage zu sondieren. Denn die Abkehr von Modernität, die Sehnsucht nach Rückkehr zu einer besseren Vergangenheit und das Misstrauen gegenüber den politischen und administrativen Eliten steht in einem direkten Zusammenhang mit dem demokratiepolitischen Abgleiten ins Rechtsextreme, ist emotional gefährlich aufgeladen und polarisiert unsere Gesellschaften dramatisch. Die Stürme auf das US-amerikanische und das brasilianische Parlament sind dahingehend nur augenfällige Beispiele für die derzeitige prekäre Lage. Insgesamt plädiert Nowotny deshalb für eine Stärkung der Demokratie im partizipativen Sinne der Einbeziehung von durch Los bestimmte und durch Expert*innen erweiterte Bürger*innenforen. Vor allem aber fordert er einen Wandel der ins Populistische verkommenen politischen Kultur. In Erinnerung an den deutschen Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt geht es ihm dabei auch darum, dass die Wahrheit wieder zumutbar und zur Regel werden muss.
Auch freut es die Redaktion der ZUKUNFT, einen luziden und thematisch mehr als relevanten Beitrag von Helmut Däuble präsentieren zu dürfen, der erstmalig 2017 in der taz erschienen ist, indes nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Denn Die Schuld der liberalen Eliten liegt nicht zuletzt darin, dass sie durchaus egozentrisch Deregulationsstrategien im Sinne des Neoliberalismus umgesetzt haben, die eine direkte Bedrohung für die gesellschaftliche Solidarität darstellen und – mit Pierre Bourdieu gesprochen – Das Elend der Welt (1997) verstärken. Denn in unseren Demokratien fühlen sich viele Menschen abgehängt und in der Folge orientierungslos. Die damit verbundene Polarisierung trifft nicht nur auf Menschen zu, die sich Rechtspopulist*innen zuwenden, sondern kann bezeichnenderweise auch bei Liberalen aufgewiesen werden. Das neoliberale (und falsifizierbare) Diktum, der gesamte soziale Raum sei einer nüchternen Nutzenmaximierung zu unterwerfen und der homo oeconomicus stelle das zentrale wirtschaftliche Leitbild dar, hat gerade bei ihnen einen Wohlstandschauvinismus erzeugt, der vorrangig die Absicherung der eigenen Prosperität anspricht und gerade nicht auf sozialen Ausgleich und Stabilität gerichtet ist. Vielmehr ist die egozentrische Ellbogengesellschaft und die Eiseskälte des Kapitalismus erkennbar auch ins liberale Milieu vorgedrungen und gefährdet damit mehrfach unsere demokratischen Grundhaltungen.
Dass ganz in diesem – den Neoliberalismus kritisierenden – Sinne in den letzten Jahrzehnten selbst sozialistisch/sozialdemokratische Grundforderungen theoretisch delegitimiert und praktisch verunmöglicht wurden, zeigt dann der hellsichtige Beitrag von Josef Redl, der vor Augen führt, warum der Gedanke an eine Erbschaftssteuer zum Ausgleich der Klassenunterschiede heutzutage nur ein Gedanke bleibt. Denn während die Einkommen der privaten Haushalte in Österreich im internationalen Vergleich recht gleich verteilt sind, sieht das Bild bei den Vermögen anders, nämlich deutlich ungleicher aus. So besitzt das vermögendste Prozent der Haushalte, etwa 40.000 an der Zahl, fast die Hälfte des gesamten Vermögens, während die zwei Millionen Haushalte der unteren Hälfte mit einem Anteil von 3,6 % fast vermögenslos sind. Um diese Kluft zu verringern und weniger Ungleichheit zu ermöglichen, wäre mithin eine Vermögensbestandssteuer prädestiniert. Doch angesichts der schon bei der Erbschaftssteuer total verhärteten Positionen der politischen Parteien ist eine stärkere Vermögensbesteuerung in Österreich in einem überschaubaren Zeitraum kaum vorstellbar. Dabei kann leicht nachgewiesen werden, das Erben sicher nichts mit Leistung zu tun hat. Insgesamt betont Redl, dass sowohl für junge als auch für alte Menschen eine kreativ gestaltete Erbschaftssteuer große Chancen eröffnen könnte, die auch mit einer stabilen und ausgeglichenen Demokratie verbunden wären.
Auch für Literaturliebhaber haben wir wieder gesorgt. Denn Thomas Ballhausen bespricht Cathrin Klingsöhr-Leroys Studie Buch und Bild – Schrift und Zeichnung, mit der die Kunsthistorikerin die Rolle des Lesens in der Kunst des 20. Jahrhunderts anhand ausgewählter Positionen der Moderne diskutiert und Konzepte von Lesbarkeit, Historizität und Prozess vor Augen führt. Ballhausen hebt dabei hervor, wie die Autorin die Verwendung von Schrift in der Kunst mit einem Lese- und Betrachtungsprozess verbindet, der nicht zuletzt auch im Sinne der Demokratie politisch zu deuten ist. Unter Bezugnahme auf Ovids Metamorphosen arbeitet sie nicht nur die Bedeutung von Linien in der Kunst heraus, sondern auch die vielfältigen Verbindungen zwischen Schreiben und Zeichnen. Die Leser*innen werden mithin angeregt, ungewöhnliche Schriften und unbekannte Konzepte zu entdecken. Lesen wird zu einem kreativen Prozess, in dem Texte zu Bildern werden – und umgekehrt.
Ganz in diesem bildnerischen Zusammenhang wollen wir unserer Autorin und bildenden Künstlerin Barbara Serloth nicht nur für ihren einleitenden Beitrag, sondern auch für ihre Bilder danken, die Sie für die Bildstrecke dieser Ausgabe der ZUKUNFT freimütig zusammengestellt hat. Gehen Sie, liebe Leser*innen, auf eine visuelle und ästhetische Reise, in deren Rahmen sie u. a. einer Denkenden, einem Tänzer, einem Wanderer und einer Frau als Statue begegnen. Und beschließen Sie doch mit uns diese Ausgabe mit einem Blick auf ein Lächelndes Gespräch …
er Wunsch des Chefredakteurs und der Redaktion liegt auch mit dieser Ausgabe darin, unseren Leser*innen angesichts eines brisanten Themas anregende Stunden der Lektüre zu ermöglichen, um sich auch in der eigenen Lebenswelt politisch, gesellschaftlich und kulturell besser orientieren zu können. Denn in diesem Sinne verstehen wir unsere Zeitschrift für Politik, Gesellschaft und Kultur. So laden wir Sie erneut ein, mit uns den Weg in die ZUKUNFT zu gehen …
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